📄 Einleitung
Seidelbast
Wie lieblich duftet uns im März der Seidelbast!
Doch innerwärts ist er voll Gift und Galle,
weil wir, in diesem Falle,
das Wunder nur beschauen sollen.
(Man muss nicht alles kauen wollen!)
K.H. Waggerl (aus »Heiteres Herbarium«, Otto Müller Verlag, Salzburg)
Alle Jahre wieder: Vergiftungen durch Pflanzen
Kinder haben Eigenschaften, die sie in besonderem Maß der Gefahr von
Vergiftungsfällen aussetzen. Ein Teil dieser Unfälle geht auf das Konto von Pflanzengiften.
Kleinkinder stecken vieles in den Mund, weil sie in dieser Entwicklungsstufe die Dinge mit dem
Mund untersuchen. Außerdem ist ihr Geschmackssinn noch nicht so fein ausgeprägt wie der von
Erwachsenen, deshalb essen sie auch schlecht schmeckende Dinge.
Ältere Kinder sind neugierig und probieren gern aus. Zudem lieben sie das Kochenspielen mit
Blättern, Blüten und Früchten, die sie in ihrer Umgebung finden.
Dementsprechend vergeht kein Jahr, ohne dass in den Tageszeitungen über Vergiftungsfälle mit
Pflanzen bei Kindern berichtet wird.
Giftpflanzen wachsen nicht nur draußen »vor den Toren der Stadt«. Viele haben als Zierpflanzen
unsere Gärten, Anlagen und Wohnungen erobert; nicht selten findet man sie sogar im Grünring um
Schulhöfe, Kindergärten, Spielplätze und Freibäder.
Bei Erwachsenen sind Vergiftungen durch Pflanzen relativ selten. Sie entstehen durch
Verwechslungen von Pflanzen (z.B. bei alternativen Ernährungsversuchen), durch
Selbstbehandlungsversuche mit pflanzlichen Zubereitungen oder durch Selbstmordversuche.
Was versteht man unter Giftpflanzen?
Giftigkeit ist ein relativer Begriff, das wusste schon der mittelalterliche Arzt
Paracelsus, von dem der bekannte Satz stammt: Allein die Dosis macht ein Gift.
Diese Aussage erklärt, warum die Übergänge zwischen Heilpflanzen und Giftpflanzen fließend sind
und warum der Begriff »Giftpflanzen« nicht leicht zu umreißen ist. Ob und wie stark eine bestimmte
Wirkstoff-Dosis bei einem Menschen als Gift wirkt, hängt auch von seinem Alter, seiner Konstitution
und seinem Gesundheitszustand ab.
Außerdem muss man wissen, dass nicht jede Pflanze der gleichen Art den gleichen Wirkstoffgehalt hat.
In Abhängigkeit vom Erbgut (Unterarten, Rassen), vom Standort, vom Klima und Wetter, vom Alter und
von der Vegetationsperiode der Pflanze unterliegen die Wirkstoffmengen Schwankungen. Auch die
verschiedenen Organe einer Pflanze (z.B. Wurzel, Stängel, Blätter, Blüten, Früchte) können
verschiedene Wirkstoffe bzw. Wirkstoffmengen enthalten. Zur Gruppe der »Giftpflanzen« gehören
solche Bäume, Sträucher und krautige Pflanzen, deren Inhaltsstoffe bei Menschen und Tieren
Gesundheitsstörungen hervorrufen können.
Zur Vergiftung mit so genannten Giftpflanzen kommt es nur, wenn die kritischen Wirkstoffe in
genügend hoher Dosierung im oder am Körper einwirken können. Glücklicherweise verhindert ein
spontanes Erbrechen (körpereigener Schutzmechanismus) in vielen Fällen, dass eine solche giftige
Wirkstoff-Konzentration entsteht.
Mit Giftpflanzen leben
Vergiftungsfälle durch Pflanzen gehören zu jenen Gesundheitsschädigungen, die sich
mit sinnvollen Maßnahmen verhüten lassen. Allerdings gibt es über das, was sinnvoll ist,
verschiedene Meinungen.
Die einen halten es für vorrangig, alle Pflanzen, die nur irgendeinen giftigen Inhaltsstoff
enthalten, aus dem Umfeld von Kindern (Spielplätze, Kindergärten, Kindertagesstätten, Schulen,
Sportplätze) auszuschließen.
Die anderen – meist Naturfreunde und Befürworter von Pflanzenvielfalt – plädieren aus
ökologischen wie pädagogischen Gründen für eine Erziehung zur Vorsicht. Kleine Kinder sollen lernen,
dass unbekannte Früchte oder andere Pflanzenteile nicht einfach probiert werden dürfen, eben weil
giftige Stoffe darin enthalten sein können. Ältere Kinder sollte man dann genauer über einzelne
Pflanzen und die mit ihnen verbundenen Gefährdungen unterrichten.
Es liegt auf der Hand, dass die Methode der Erziehung das Problem gründlicher angeht. Selbst wenn
es möglich wäre, gifthaltige Pflanzen aus den öffentlichen Anlagen, in denen Kinder spielen,
gänzlich zu entfernen, so fänden sich doch immer noch so genannte Giftpflanzen in privaten Gärten,
deren Bewuchs an öffentliche Wege oder Plätze heranreicht, oder in der natürlichen Landschaft rund
um Dörfer und Städte. Der Umgang mit der Natur muss also in jedem Fall gelernt werden.
Unbestritten ist es sinnvoll, Kinderspielplätze von den giftigen Vertretern der so genannten
Giftpflanzen freizuhalten. Deshalb haben einige Länderministerien versucht, durch bestimmte Erlasse
bzw. Bekanntmachungen über Anpflanzungen im Bereich von Kinderspielplätzen (in Baden-Württemberg
auch Kindertagesstätten und Kinderheimen) gefährdende Pflanzen aus diesem kindlichen Umfeld
auszuschließen, d.h. auch bereits gepflanzte »giftige« Sträucher und Bäume im Umfeld von
öffentlichen Spielplätzen zu entfernen. Gegen ein solches rigoroses Entfernen aller »Giftpflanzen«
haben sich insbesondere die Ständige Konferenz der Gartenbauamts-Leiter beim Deutschen Städtetag
sowie der Bundesverband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau gewandt, da mit diesem Vorgehen
pädagogische und ökologische Ziele außer Acht gelassen würden. Außerdem hätten viele der in den
Erlassen bzw. Bekanntmachungen genannten Pflanzen gar keine oder kaum eine Bedeutung für die
Beratungspraxis, wie aus den Statistiken der Giftinformationszentralen hervorgehe.
Die Konferenz der Gartenbauamtsleiter sowie der Bundesverband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau
plädieren deshalb dafür, nur vier wegen ihrer Früchte besonders auffallende Gehölzarten –
den Goldregen⮧,
das Pfaffenhütchen⮧,
die Stechpalme⮧ und
den Seidelbast⮧ –
nicht an Spielplätzen anzupflanzen, jedoch grundsätzlich in geeigneter Weise auf giftige
Bestandteile in Pflanzen hinzuweisen. Nach ihrer Meinung sollten die bestehenden Ländererlasse
wieder aufgehoben werden, da sie in der Praxis, insbesondere bei den Verantwortlichen für
Kindergärten, nur Verwirrung und Ängste ausgelöst hätten und ökologisch nicht verantwortbar seien.
Warum war eine Überarbeitung der vorliegenden Broschüre nötig?
Die Neuauflage dieses Heftes erscheint in völlig überarbeiteter Form.
Vielleicht wundert sich der eine oder andere Leser, wenn er die Aussagen dieses Heftes mit denen
älterer Hefte vergleicht. Wie können sich denn Aussagen über die Giftigkeit von Pflanzen ändern?
Dafür gibt es mehrere Gründe:
• Die Literatur über Vergiftungsfälle wurde kritischer als bisher
gesichtet.
• Chemische Verfahren zur Erfassung von pflanzlichen Inhaltsstoffen wurden feiner.
• Aus der Arbeit der modernen Giftinformationszentralen ergaben sich viele wertvolle Beobachtungen
über die tatsächliche Wirksamkeit von pflanzlichen Inhaltsstoffen.
Alle diese Erkenntnisse und Erfahrungen haben zu einer genaueren und damit realistischeren
Einschätzung der Gefährdung durch Pflanzen geführt, in nicht wenigen Fällen im Sinne einer
Entschärfung. Daraus darf allerdings nicht abgeleitet werden, dass im Umgang mit Pflanzen nun
weniger Vorsicht nötig sei. Aber in dem einen oder anderen Fall lässt sich mit diesen präzisen
Kenntnissen besser die Aufregung dämpfen, wenn ein Kind doch einmal giftige Beeren oder andere
Pflanzenteile gegessen hat.
Die Reihenfolge der Pflanzen haben wir aus den Statistiken der
Giftinformationszentralen abgeleitet, d.h. aus der Beratungshäufigkeit für verschiedene
Pflanzen;
📝Ich habe hier die Pflanzen alphabetisch
aufgeführt.
darüber hinaus haben wir aber auch einige Pflanzen in dieses Heft aufgenommen, die zwar selten
tatsächlich zu Vergiftungen führen, deren Wirkung aber, wenn sie doch einmal gegessen oder berührt
werden, einen Hinweis rechtfertigen. Den Giftigkeitsgrad haben wir mit stark giftig, giftig
bzw. schwach giftig angegeben. Diese Bewertung kann im Vergiftungsfall dazu beitragen, voreilige,
unüberlegte Maßnahmen zu verhindern.
📝Ich habe hier ein zusätzliches Kapitel mit
stark giftigen Pflanzen⮧
eingefügt.
48 Pflanzen werden in dieser kleinen Broschüre vorgestellt, aber in der Natur gibt
es weit mehr Pflanzen mit giftigen Inhaltsstoffen. Auch das muss der Leser wissen. Für alle
Zweifelsfälle gilt also »Beschauen, nicht kauen«, wie es der Schriftsteller K.H. Waggerl so
einprägsam formuliert hat.