02.06.2010
Erzählt ein Kind sein Lieblingsmärchen, verrät es damit viel über seine inneren und äußeren Konflikte, seine Ängste, Befürchtungen, Aggressionen und Wünsche. Erzählt es zum Beispiel die Geschichte vom Froschkönig, und ist der Wald, in den die Prinzessin so gerne geht, dunkel und bedrohlich, beschreibt es ausführlich die Verzweiflung der Königstochter, als ihr die goldene Kugel in den Brunnen fällt, könnte das bedeuten, dass beide (Königstochter und das erzählende Kind) niemanden zum Spielen, keine Freunde haben, und die Welt außerhalb der gewohnten Umgebung sie erschreckt. Bevorzugt ein Kind das Märchen Der Wolf und die 7 jungen Geißlein und identifiziert es sich besonders mit dem jüngsten Ziegenkind (das sich im Uhrenkasten versteckt und deshalb nicht vom Wolf gefressen wird, als die Mutter abwesend ist), so ist dieses Kind wahrscheinlich schüchtern, eventuell das jüngste in seiner Familie, und es könnte Angst haben, von seiner Mutter verlassen zu werden. Wird eine solche Angst mit Hilfe der Märchen aufgedeckt, kann man sie frühzeitig bekämpfen und überwinden. Geschieht das nicht, kann das zu einer Entwicklungsstörung oder gar Neurose ausarten. Oft wird die Brutalität von Märchen kritisiert. Viele Kinder kennen gar keine Märchen. Ich kenne einige solcher Eltern und behaupte deswegen, dass deren Kinder weder die gescheitesten noch die liebevollsten Eltern haben! Die alleinerziehende Mutter eines kleinen Jungen treibt das sogar so weit,
dass dieses Kind keinerlei Weihnachtsgeschenke bekommt! Wie dieses Kind damit klarkommt, dass alle seine Freunde und Spielkameraden reichlich beschenkt
werden (wobei es ihm gleichgültig ist, ob von Mutter oder »Weihnachtsmann«), will ich gar nicht
wissen. Wer halbwegs klar im Kopf ist, der lässt seinem Kind den Glauben an Märchen, Weihnachtsmann & Co., weil das dem Kind viel mehr hilft, die Klippen des Lebens erfolgreich zu umschiffen, als wenn man ihm mit Tausend Geboten und Verboten die Kindheit versaut und einen Großteil dessen raubt, was eine glückliche Kindheit ausmacht. Betrachtet man Märchen genauer, dann erkennt man, das jedes von ihnen Kindern (und auch Erwachsenen) ein Stückchen Lebensweisheit mit auf den Weg gibt. Statt seinem Kind immer wieder zu predigen, es soll den kürzesten und sichersten Schulweg gehen, nicht trödeln und ihn nicht verlassen, kann man ihm schon frühzeitig Rotkäppchen und der Wolf vorlesen (und erklären). Statt sein Kind immer wieder zu ermahnen, keine Fremden in die Wohnung zu lassen (oder keinem Fremden blindlings zu vertrauen), kann man ihm mit weit weniger Aufwand am Beispiel des Märchens Der Wolf und die 7 jungen Geißlein die Gefahren aufzeigen, die auf Kinder lauern können, die alleine zu Hause oder unterwegs sind. Zwar wissen Kinder heutzutage, dass nicht wirklich ein Wolf am Wegesrand oder vor der Wohnungstür lauert, wenn man den Wolf aber mit »bösen Menschen« gleichsetzt, dann prägt sich das dem Kind besser ein, als wenn man es auf unzählige »abstrakte« Gefahren hinweist. Selbst viele Erwachsene haben Schwierigkeiten damit, »abstrakte« Gefahren zu erkennen. Das ist ein Grund dafür, dass die meisten Unfälle nicht im Straßenverkehr passieren, sondern im Haushalt, wo man doch anscheinend so sicher ist und alles im Griff hat. Genau diese Leute müssen auch per Gesetz dazu gezwungen werden, Rauchmelder in der Wohnung zu haben, weil sie zu dusselig sind, sich vorzustellen, dass sie bei einem Wohnungsbrand nach drei Minuten wohnungslos oder nach drei Atemzügen mausetot sein könnten! Es sind meist nicht die Gescheitesten, die ihre Leben wegwerfen. 😉 Leute, die ihren Kindern Märchen und den Glauben an den Weihnachtsmann vorenthalten, sind auch sonst keine sonderlich angenehmen Zeitgenossen. Das sind Leute, die sich mit den Ellenbogen den Weg durchs Leben erkämpfen, wobei offensichtlich ist, dass das kein besonders schöner Weg für sie ist (vielleicht wollen sie sich ja dafür an ihren Kindern »rächen«: Wenn ich selbst keine allzu glückliche Kindheit hatte, warum soll es dann mein Kind besser haben? Anderen Kindern gehts noch viel schlechter, die haben nicht mal was zu Essen!). Na ja, ich bin das GEGENTEIL von solchen Leuten. Meine eigene Kindheit war über weite Strecken DIE HÖLLE, das ist für mich aber erstrecht ein Grund, es besser zu machen als meine Eltern! Und ich kenne einige Leute, die das genauso sehen und handhaben. 😘 PS: Ich habe fünf Jahre meiner Kindheit in einem DDR-Kinderheim verbracht. Ja, wir Kinder wussten irgendwann, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Und trotzdem wäre kein Erwachsener auf die Idee gekommen, uns den Glauben an ihn (und damit den Glauben an das Gute im Leben) zu nehmen. Dass die Welt nicht nur gut ist, hatten wir ohnehin schon früh genug erfahren, deshalb waren wir ja Heimkinder! Und deshalb waren wir so sehr darauf angewiesen, an irgendwas Gutes zu glauben, und sei es nur ein Märchen, in dem am Ende alles gut wird! Nur in dieser Zeit durfte ich KIND sein! Zuhause war ich KNECHT und PRÜGELKNABE, mit Null Rechten, aber Tausend Pflichten, wobei jede Pflichtverletzung mit schweren körperlichen Misshandlungen bestraft wurde und lebenslanger Liebesentzug sowie seelische Vernachlässigung die schlimmsten aller Strafen waren, unter denen ich noch heute leide, obwohl meine Kindheit seit 1967 hinter mir liegt! Leute, lasst eure Kinder KINDER sein! Die wenigen Jahre, die ihnen vielleicht
nur bleiben … PS: Du könntest damit gleich loslegen – auf meiner Märchen-Seite. 😉 |
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© 02.06.2010 HansiHerrmann.de
Letzte Änderung: 08.09.2025 21:39:42
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