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Rotkäppchen
Märchen der Brüder Grimm

Rotkäppchen
Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jeder lieb, der es nur ansah, am allerliebsten aber seine Groß­mutter.
Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen aus rotem Samt. Weil es ihm so gut stand und es nichts anderes mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen.

Rotkäppchen, Bild 1 (Otto Kubel) Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm:
»Komm, Rotkäppchen, bring dieses Stück Kuchen und eine Flasche Wein zur Großmutter. Die ist krank und schwach.
Geh los, bevor es heiß wird.
Und komm nicht vom Weg ab, sonst fällst du hin und zerbrichst das Glas.
Und wenn du in ihre Stube kommst, vergiss nicht, guten Morgen zu sagen!«

»Ich will alles richtig machen,« versprach Rotkäppchen ihrer Mutter.

Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf entfernt.
Als Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf.

Rotkäppchen, Bild 2 (Otto Kubel) Rotkäppchen wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm.
»Guten Tag, Rotkäppchen!« sagte der Wolf.
»Schönen Dank, Wolf!«
»Wo willst du denn so früh hin, Rotkäppchen?«
»Zur Großmutter.«
»Was trägst du unter der Schürze?«
»Kuchen und Wein. Gestern haben wir gebacken, davon soll die kranke Großmutter etwas abbekommen und sich stärken.«
»Rotkäppchen, wo wohnt denn deine Großmutter?«
»Noch gut eine Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus.« sagte Rotkäppchen.

Der Wolf dachte bei sich: Rotkäppchen ist ein feines Essen! Es wird noch besser schmecken als die Großmutter! Ich muss schlau sein, damit ich beide erwische! Da ging der Wolf eine Weile neben Rotkäppchen her, dann sagte er:
»Rotkäppchen, sieh mal die schönen Blumen, die ringsumher stehen. Warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie schön die Vöglein singen. Du gehst ja so, als wenn du zur Schule gingst, und dabei ist es so lustig draußen im Wald.«

Rotkäppchen, Bild 3 (Otto Kubel)

Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten und alles voll schöner Blumen stand, dachte es: Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, wird sie sich freuen. Es ist so früh am Tag, dass ich doch rechtzeitig ankomme.

Sie lief vom Wege ab in den Wald hinein und suchte Blumen. Und wenn es eine gepflückt hatte, meinte es, weiter weg stände eine schönere, und lief hin und geriet immer tiefer in den Wald hinein.

Rotkäppchen, Bild 4 (Otto Kubel)

Der Wolf aber ging geradewegs zum Haus der Großmutter und klopfte an die Tür.
»Wer ist draußen?«
»Rotkäppchen. Ich bringe Kuchen und Wein. Mach auf!«
»Drück auf die Klinke!« rief die Großmutter, »ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen.«
Der Wolf drückte auf die Klinke, die Tür sprang auf, er ging, ohne ein Wort zu sagen, zum Bett der Groß­mutter – und verschluckte sie.

Dann zog er ihre Kleider an, setzte ihre Mütze auf, legte sich in ihr Bett und zog die Vorhänge zu.

Rotkäppchen aber hatte nach Blumen gesucht, und als es so viele waren, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und machte sich auf den Weg zu ihr.
Rotkäppchen wunderte sich, dass die Türe aufstand, und als sie in die Stube kam, kam es ihr so seltsam darin vor, dass sie dachte: Oh Gott, mir wird so ängstlich, und bin doch sonst so gerne bei der Großmutter!
Sie rief: »Guten Morgen,« und bekam keine Antwort. Sie ging zum Bett und zog die Vorhänge zurück. Da lag die Großmutter und hatte die Mütze tief ins Gesicht gezogen und sah so komisch aus.

»Großmutter, was hast du für große OHREN!«»Dass ich dich besser HÖREN kann!«
»Großmutter, was hast du für große AUGEN!«»Dass ich dich besser SEHEN kann!«
»Großmutter, was hast du für große HÄNDE!«»Dass ich dich besser PACKEN kann!«
»Aber, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes MAUL!«»Dass ich dich besser FRESSEN kann!«

Kaum hatte der Wolf das gesagt, sprang er aus dem Bett und verschlang das Rotkäppchen.

Mit vollem Bauch legte er sich wieder ins Bett, schlief ein und fing an, laut zu schnarchen. Da kam der Jäger an dem Haus vorbei und dachte: Wie die alte Frau schnarcht! Du musst mal nachsehen, ob ihr etwas fehlt. Da trat er in die Stube, und als er zum Bett kam, sah er, dass der Wolf drin lag. »Finde ich dich hier, du alter Sünder,« sagte er, »ich habe dich lange gesucht.«
Nun wollte er sein Gewehr anlegen, doch ihm fiel ein, der Wolf könnte die Großmutter gefressen haben und sie wäre noch zu retten. Er schoss nicht, sondern nahm eine Schere und fing an, dem schlafenden Wolf den Bauch aufzuschneiden. Nach ein paar Schnitten sah er das rote Käppchen leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und rief: »Ach, wie war ich erschrocken, es war so dunkel in dem Bauch des Wolfes!« Und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte kaum atmen. Rotkäppchen aber holte schnell große Steine, die sie dem Wolf in den Bauch füllten. Als er aufwachte, wollte er wegrennen, aber die Steine waren so schwer, dass er gleich umfiel und starb.

Rotkäppchen, Bild 5 (Otto Kubel) Da waren alle drei vergnügt. Der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen mitgebracht hatte.

Rotkäppchen aber dachte: Du willst nie wieder allein in den Wald laufen, wenn es dir die Mutter verboten hat.
Bilder: Otto Kubel (1868–1951)




© 06.06.2024 HansiHerrmann.de