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Was um Hirbel herum ist und was in ihm sein könnteDas Durchgangsheim ist von der Stadt eingerichtet. In ihm arbeiten neben der Direktorin, die den Hirbel mag, Fräulein Maier, die den Hirbel besonders mag, und Fräulein Müller, der der Hirbel gleichgültig ist; außerdem ein junger Mann, der von der Universität kommt und noch lernt; eine Krankenschwester, die dafür sorgt, dass alle Kinder ihre Mittel und Spritzen zur rechten Zeit bekommen; eine ältere Frau, die für die Direktorin die Briefe schreibt und über jedes Kind eine Karte anlegt, auf der alles steht, was Fräulein Maier und Fräulein Müller wissen müssen; schließlich der Herr Schoppenstecher und seine Frau, die den Hirbel ganz gewiss nicht mögen – und jeden Tag kommt der Direktor vorbei. Das Heim steht in einem großen Garten am Rande der Stadt. Es war früher wahrscheinlich die Villa von sehr reichen Leuten, die dreißig Zimmer brauchten, um wie reiche Leute leben zu können. Der Schlafsaal für die Jungen ist früher das Musikzimmer, der Schlafsaal für die Mädchen der Salon gewesen, sagt Fräulein Maier. Das Haus hat ein großes Portal mit einer sehr hohen Holztür, die schwer aufzukriegen ist. Die Kinder, die die Tür zum ersten Mal sehen, haben immer Angst, denn sie wissen nicht, was sie in dem Heim erwartet. Hinter der Tür befindet sich eine ziemlich große und durch beide Stockwerke gehende Halle. Die Neuankömmlinge werden dort von der Direktorin empfangen. Sie ist groß, dünn, hat weiße glatte Haare und Augen, die eigentlich immer lachen. Ihre Stimme klingt wie die eines Mannes, so dunkel. Von der Halle führt eine breite Holztreppe hinauf ins erste Stockwerk, wo die Schlafsäle sind. Im zweiten Stock haben die Direktorin, Fräulein Maier und Fräulein Müller ihre Zimmer. Dort wird verwaltet. Als der Hirbel zum ersten Mal über die Schwelle trat und in der Halle stand, hatte er Angst und dachte, dass dies wohl ein Schloss sein muss. Wenn er redete, hallte seine Stimme. Das fand er lustig. Später sang er in der Halle, und das hörte sich schön an. Er tat es gern. Weil Hirbel aber schon in vielen Kliniken und Häusern gewesen war, überwand er rasch seine Angst und war schon am zweiten Tag mit dem Haus vertraut. Er kannte alle Zimmer und wusste genau, dass das Souterrain, wo die Schoppenstechers wohnten, gefährlich war, richtiges Feindesland, das man besser ausließ. In den Schlafsälen standen eiserne Betten, die in der Nacht, wenn man sich herumdrehte, knirschten und krachten. An der Querwand der Säle waren Schränke, in denen jedes Kind sein Fach hatte. Die Schränke waren auch dazu da, dass Hirbel sich in ihnen versteckte und Abende lang in ihnen wohnte. Um halb sieben mussten die Kinder aufstehen und in die Waschräume gehen. Müller-Maier achteten darauf, dass sie sich auch das Gesicht, die Hände und die Füße nass machten und die Zähne putzten. Zähne mussten am Abend und am Morgen geputzt werden. Das fand der Hirbel scheußlich. Allerdings hatten sie eine Zahnpasta, die angenehm nach Lakritz schmeckte. Die Mädchen hatten ihren eigenen Waschraum. da ging der Hirbel manchmal hinein, wenn sich die Mädchen wuschen, nackig vor den Waschbecken standen. Sie kreischten, wenn er die Tür aufriss. Er hatte schon eine Menge nackiger Mädchen gesehen, in den Kliniken und bei den Pflegeeltern, und er fand sie alle blöd. Am Vormittag wurden die Kinder in Gruppen aufgeteilt. Müller-Maier und der junge Mann spielten mit ihnen und machten Aufgaben mit den Kindern, die in die Schule mussten. Es waren aber nicht viele, und sie hatten es in der Schule nicht gut. Sie wurden von den “richtigen Schulkindern” ausgelacht, gehänselt und geschlagen, und es wurde ihnen nachgerufen: Heimkinder! Heimkinder! Im Parterre neben der großen Halle war der Speisesaal mit großen Fenstern zum Garten, in dem immer viel Licht war und den der Hirbel sehr gern hatte. »Hier ist der König gewesen«, sagte er zu Fräulein Maier. Fräulein Maier sagte: »Wenn du es meinst, dann schon.« Sie saßen an vier langen Tischen, die von der Direktorin, von Müller-Maier und dem jungen Mann “befehligt” wurden. Nach dem Mittagessen herrschte Ruhe. Zwei Stunden lang. Sie mussten sich auf die Betten legen, aber nicht unbedingt schlafen. Der Hirbel schlief immer. Er war müde von Vormittag. Am Nachmittag wurde im Freien gespielt, wenn gutes Wetter war, oder es wurden Ausflüge gemacht. Bei schlechtem Wetter machten sie Spiele im Speisesaal oder bastelten. Das konnte der Hirbel nicht leiden. Beim Basteln machten seine Finger nicht richtig mit. »Du bist arg ungeschickt«, sagte Fräulein Müller zu ihm. So verging jeder Tag. Der Hirbel hatte sich daran gewöhnt, und er richtete sich nach dem Tageslauf ein. Außerdem war doch jeder Tag anders als der vorhergehende, das war ihm klar. Nur der große Georg kümmerte sich um den Hirbel. Richtige Freunde hatte er nicht. Die Kinder fürchteten seinen Jähzorn, seine Launen, das, was Fräulein Maier “seine Anfälle” nannte. Darum zog er sich oft in den Schrank zurück, in irgendeine Ecke des Speisesaals oder kletterte auf den Apfelbaum im Garten, wo er sein Nest hatte. Das verteidigte er gegen alle, die hinaufzukommen versuchten. Er schüttelte sie von den Ästen und jauchzte, wenn sie sich wehtaten. Manchmal verprügelten ihn die Jungen, aber er war, so dünn er aussah, kräftig und wendig und hatte im Laufe der Jahre gelernt, sich mit Geschick durchzusetzen. Er war ein guter Boxer. Seine Schläge kamen schnell und hart. Selbst der große Georg fürchtete sie. Einen Vierzehnjährigen, der Pinsel gerufen wurde, weil ihm seine Haare immer fettig zu Berge standen, und der überhaupt aussah wie ein Pinsel, schlug der Hirbel im Kampf nieder. Sie hatten sich während eines Ausflugs um einen schönen Holzstock gestritten, und der Pinsel hatte ihm den Stock einfach aus der Hand gerissen. Der Hirbel war ihm nachgerannt, hatte geschrien: Jetzt kämpfen wir«, und Pinsel hatte sich zum Kampf gestellt. Hirbel schlug einfach, die Augen geschlossen, mit kleinen Fäusten trommelnd auf Pinsel ein. Der kam gar nicht dazu, zurückzuschlagen. Eine Faust traf ihn am Hals, und er fiel um. Der Hirbel war so verdattert und eingeschüchtert über seinen Erfolg, dass er davonrannte und erst am Abend wieder ins Heim geschlichen kam. Er fragte Fräulein Maier, ob der Pinsel tot ist. Fräulein Maier sagte, er lebe noch, aber es sei nicht richtig, auf den Hals zu schlagen. »Das habe er nicht gewollt, auf den Hals«, sagte Hirbel. »Lieber ins Gesicht.« »Auch nicht ins Gesicht«, sagte Fräulein Maier. »Wohin denn dann?« fragte Hirbel. »Gar nicht«, sagte Fräulein Maier. »Aber wo er mein Feind ist und mir Stöcke klaut?« sagte Hirbel. Da zuckte Fräulein Maier mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht, Hirbel.« Um sieben Uhr, noch dem Abendessen, gingen die Kinder in die Schlafräume, um acht wurde das Licht gelöscht. Da saß der Hirbel meist im Schrank. Obwohl er Medikamente bekam, von denen der Arzt sagte: Die helfen dir beim Schlafen, konnte der Hirbel nie einschlafen. Im Schrank fühlte er sich wohl, führte Selbstgespräche oder sang so laut, dass die anderen eine Wut bekamen. Sie rührten ihn jedoch nicht an. Um neun oder zehn kam der Hirbel aus dem Schrank – die anderen Kinder schliefen alle schon – und legte sich ins Bett. Manchmal brauchte er bis zwölf, um einzuschlafen, weil der Kopf ihm so weh tat oder weil er über Sachen nachdenken musste, die ihn quälten, die ihm Furcht einflößten, die er nicht begriff. Fräulein Maier, die das wusste, setzte sich manchmal zu ihm und erzählte ihm von Kindern, die auch krank gewesen waren und denen es jetzt besser ging. Niemand, Fräulein Maier nicht und die Direktorin nicht, wusste, was der Hirbel dachte und wer er eigentlich war. im Grunde war er ein Fremdling. Er war krank, er konnte sich nicht ordentlich ausdrücken, er tat eine Menge Sachen, die alle durcheinander brachten oder aufregten. Der Doktor hatte Begriffe für Hirbels Krankheit, aber die waren keine Hilfe, denn sie konnten einem nicht erklären, was in ihm steckte. Für alle war seine schöne Stimme ein großes Wunder. Deshalb sagten auch Menschen, und selbst Herr Kunz in der Kirche: Etwas ist in dem Kind, was gut ist. Was aber ist gut? Nur eine schöne Stimme? Oder weil der Hirbel, wenn er singen muss, zehn Minuten still stehen kann? Oder weil er glücklich ist, wenn ihm Fräulein Maier über die Backe streichelt? Oder weil er sich freut, wenn die Direktorin seinen Fleiß beim Holzeinsammeln lobt? Ist der große Georg gut, der dauernd lügt und, wenn er einen Hass hat, ins Bett pinkelt? Oder ist die Edith gut, die, wenn die Direktorin in der Nähe ist, lieb lächelt, die Teller von Tisch wegräumt und blöd rumsäuselt und am Nachmittag in einer Gartenecke den Jungen die Hose runterzieht? Der Hirbel weiß nicht, was gut ist. Der Hirbel weiß jedoch, wenn er traurig ist, wer ihm weh tut, wer ihn gern hat. Er freut sich, wenn er hierbleiben kann, wo er sich wohlfühlt. Er weiß, wann er wegrennen muss. Und der Hirbel meint, dass das eine Menge wert ist. Nur verstehen das die Erwachsenen nicht. Sie sagen dauernd: Du bist bös, und selten sagen sie: Du bist gut. Ihm ist das egal. |
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© 13.12.2010 HansiHerrmann.de
Letzte Änderung: 08.09.2025 21:41:52
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