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Hirbels Kampf gegen Herrn SchoppenstecherAm meisten fürchtete Hirbel Herrn Winkler vom Jugendamt. Der bestimmte über ihn. Jedes Mal wenn er auftauchte, änderte Herr Winkler sein Leben. Wenn Herr Winkler kam, wurde alles anders und eigentlich immer schlimmer. Herr Winkler behauptete: »Ich kümmere mich um dich.« Aber kümmerte sich Herr Winkler wirklich um ihn? Herr Winkler war ein Gepäckträger, und das Gepäck war der Hirbel. Am meisten hasste Hirbel Herrn Schoppenstecher. Herr Schoppenstecher war der Hausmeister des Heims. Er sorgte, so sagte er, für Zucht und Ordnung. »Was die Erzieherinnen nicht können, das bringe ich schon hin,« schrie Herr Schoppenstecher manchmal. Herr Schoppenstecher war klein, unmäßig dick und hatte eine blaue Nase vom Most trinken. Seine Frau putzte das Haus, Herr Schoppenstecher heizte, mähte das Gras im Garten, reparierte kaputte Becken und Wasserleitungen. »Ihr macht alles kaputt, ihr Teufel!« schrie er. Warum er den Hirbel nicht ausstehen konnte, war nicht zu verstehen. Denn der Hirbel wich Herrn Schoppenstecher in der ersten Zeit voller Angst aus. Ihn ängstigte das Gebrüll des dicken Mannes, und er hatte zugesehen, wie er einmal ein Mädchen aus dem Schlafsaal B verhauen hatte. Dem wollte er nicht unter die Hände kommen, dem nicht! Hirbel hatte schon eine Menge Prügel bekommen. Er konnte vergleichen, wer arg zuschlug und wer nur so tat. Herr Schoppenstecher hatte eine böse, harte Hand, und den Hirbel hatte er auf dem Kieker. Wann immer eine Platte im Vorraum lose war, eine Türklinke locker, erklärte Herr Schoppenstecher: »Das war der Hirbel, dieser Schwachkopf, dieser Depp«, obwohl es der Hirbel nicht war. Hirbel wusste, dass es zu einem Zusammenstoß zwischen ihm und Herrn Schoppenstecher kommen würde. Müller-Maier achteten jedoch darauf, dass er nie allein mit Herrn Schoppenstecher zusammen war. Sie passten auf. Auch die Frau Direktorin passte auf. Herr Schoppenstecher kannte Hirbels Vorliebe für den Apfelbaum im Garten. Dem großen Georg, der ihm oft helfen musste, kündigte er an: »Dem Sauhund säg’ ich noch mal seinen Ast ab.« Georg warnte Hirbel. Dem aber war es schon egal. Er hatte seinen Kampf gegen Herrn Schoppenstecher begonnen. Das erste Gefecht gelang ihm nicht. Die Schoppenstechers wohnten im Souterrain; eine Treppe führte hinunter, die die Kinder nicht zu betreten wagten. Das war Schoppenstechers Reich, und er verteidigte es mit Gebrüll und Schlägen: »Dass die Dreckbälger auch noch zu mir runterkommen!« Hirbel überlegte lange, und das Ergebnis seines Nachdenkens war: Er spannte eine Schnur, die Fräulein Maier ihm geschenkt hatte, zwischen die beiden Treppengeländer. Nicht hoch, damit Herr Schoppenstecher sie nicht sehen konnte und darüber stolpern würde. Herr Schoppenstecher freilich war schlau. Er sah die Schnur gleich. Er schrie: »Das ist ein Anschlag auf mein Leben!« und rannte zur Frau Direktor. Die zog ein ernstes Gesicht, obwohl sie eigentlich Lust hatte zu lachen, denn sie mochte Herrn Schoppenstecher auch nicht. Sie sagte. »Diese Sache müssen wir prüfen.« Fräulein Maier erkannte die Schnur, aber sie sagte nichts. Der Hirbel sagte auch eine Weile nichts. Dann ging er, nach dem Essen, der Frau Direktor nach, stellte sich vor sie hin, brachte eine Zeit lang kein Wort heraus und sagte schließlich, Wort für Wort setzend: »Frau Direktor – Herr Schoppenstecher – ich war der Anschlag auf das Leben.« Frau Direktor sagte zu ihm: »Das ist jetzt schon vorbei. Das behalten wir für uns. Aber du machst so was nicht mehr.« Er gab ihr keine Antwort und verschwand ganz schnell. Das zweite Gefecht gelang dem Hirbel besser. Herr Schoppenstecher besaß fünf Hühner. Sie hatten einen vergitterten Stall hinter dem Heim. Die Hühner weckten am Morgen die Kinder. Da Herr Schoppenstecher den Stall nicht oft putzte – er sagte stets: Ich ersauf’ noch in der Arbeit –, stank es entsetzlich. Der Hirbel hatte einmal zugesehen, wie Georg ein Huhn hypnotisierte, so sagte es der Georg wenigstens, und Hirbel fand das “Hypnotisieren” sehr erstaunlich. Georg hatte ein Huhn auf den Rücken gelegt, und es regte sich nicht mehr. Wenn man Hühner auf den Rücken legt, erstarren sie. Allerdings muss man sie vorher fangen. Das ist nicht so leicht. Hirbel hatte vor, alle fünf Hühner aus Rache zu “hypnotisieren”. Jeden Freitag fuhr Herr Schoppenstecher mit dem Lieferwagen in die Stadt, um, so sagte Herr Schoppenstecher, die Sach für die Fresssäck zu holen, und fügte hinzu, »Die fressen uns überhaupt noch die Haare vom Kopf! Solche Kinder sind nichts wert.« An einem Freitag entschloss sich Hirbel zur Tat. Herr Schoppenstecher war weg, Frau Schoppenstecher litt an Asthma und lag im Bett. Die Hühner waren ihr auch gleichgültig. Sie gehörten ihrem Mann. Hirbel ging in den Stall und fing ein Huhn nach dem anderen, legte es auf den Rücken, und am Ende lagen fünf Hühner schön aufgereiht völlig regungslos da. Hirbel hatte sie hypnotisiert. Während er die Hühner fing, hatte er Angst, jemand könnte wegen des Gegackers kommen. Er hatte Glück. Es kam niemand. Herrn Schoppenstecher, als er mit dem Lieferwagen zurückkam, fiel nicht gleich auf, was mit seinen Hühnern geschehen war. Er trug die Pakete in den Keller, fluchend, stolpernd, und erst am Nachmittag, als er die Hühner füttern wollte, sah er das Unglück. Er lief durchs Haus und schrie: »Man hat sie umgebracht! Alle umgebracht!« Und die Kinder, Müller-Maier, die Frau Direktor, die Ärztin versammelten sich um ihn, erschreckt, weil sie nicht wussten, wer umgebracht worden ist. Vielleicht Frau Schoppenstecher? »Nun seien Sie einmal ruhig, Herr Schoppenstecher«, sagte die Frau Direktor, »erzählen Sie, was los ist.« »Die Hühner!« rief Herr Schoppenstecher, »alle tot.« Tränen traten in seine Augen. Die Kinder waren erstaunt darüber, dass Herr Schoppenstecher weinen konnte. Georg fragte leise: »Hat man ihnen denn die Hälse abgeschnitten?« Herr Schoppenstecher fuhr ihn an, war nahe daran, ihm eine runterzuhauen, doch Müller-Maier hoben gemeinsam warnend die Hände, dann sagte er: »Nein, sie liegen ganz still da.« »Kann ich das mal ansehen?« fragte die Direktorin. »Folgen sie mir!« sagte Herr Schoppenstecher, als redete er in einem Theaterstück. Georg ging mit und flüsterte auf dem Weg der Direktorin zu: »Die sind sicher bloß hypnotisiert.« »Was sagst du?« fragte die Direktorin. Georg erklärte es ihr. Die Hühner lagen noch immer da. »Tot«, keuchte Herr Schoppenstecher. Georg trat ruhig in den Stall, hob eines nach dem anderen auf, setzte es hin, die Hühner wackelten hin und her, piepsten ein wenig, richteten sich auf, zuerst der Hahn, und nach einem Augenblick rannten sie wieder herum. »Das ist ungeheuerlich«, stellte Herr Schoppenstecher fest, »das ist ein Attentat!« Und nach einer kurzen Besinnungspause schrie er die Direktorin an: »Der Hirbel!« Die Direktorin erklärte ihm, sie könne sich nicht denken, dass der kleine Hirbel das tue, er sei gar nicht in der Lage, die Hühner zu fangen und auf den Rücken zu legen »Der Saukopf kann alles«, sagte Herr Schoppenstecher. Die Direktorin sagte: »Mäßigen Sie sich, Herr Schoppenstecher.« Am Abend kam Fräulein Maier an Hirbels Bett. Sie setzte sich zu ihm, erzählte ihm was und fragte dann nebenbei: »Hast du das mit den Hühnern gemacht?« Der Hirbel schwieg. Fräulein Maier sagte: »Ich habe gar nicht gewusst, dass man das tun kann.« Hirbel richtete sich auf, lachte sie an und sagte: »Hypnotisieren, gell, das is toll!« Fräulein Maier stand auf, sagte ihm gute Nacht und ging weg. Doch noch war Hirbels Kampf gegen Herrn Schoppenstecher nicht zu Ende. Es gab erst einmal eine schlimme Niederlage. Er musste mit zwei oder drei Kindern zu Hause bleiben. Müller-Maier waren weg, auf einem Ausflug. Er sollte untersucht werden, von einem Doktor aus der Stadt. Er hatte wieder schlimme Kopfschmerzen und dazu noch seine alten “Wutanfälle”. Selbst die Tabletten halfen nichts mehr. Weil es ihm langweilig war, beschloss er, Herrn Schoppenstecher die Arbeit zu versauen. Herr Schoppenstecher wollte das Gras mähen. Ehe das Gras gemäht wurde, mussten Kinder die Steine aus dem Rasen lesen, weil Herr Schoppenstecher nicht wollte, dass die Mähmaschine dauernd kaputt ist. Herr Schoppenstecher war noch einmal in seine Wohnung gegangen, wahrscheinlich, um Most zu trinken. Hirbel ging aus dem Haus in den Garten, holte sich vom Weg eine Handvoll Kies und verteilte sie säuberlich auf dem Rasen. Es merkte nicht, dass Herr Schoppenstecher, der ziemlich schnell getrunken hatte, schon wieder im Garten war und ihm zusah. Als Hirbel fertig war, schoss Herr Schoppenstecher auf ihn zu, packte ihn wortlos, legte ihn über den Holzbock, auf dem er Holz hackte, und schlug mit beiden Händen auf ihn ein. Der Hirbel schrie nicht, er seufzte nur. Herr Schoppenstecher schlug lange zu. Dann stieß er ihn vom Holzbock, und Hirbel blieb auf dem Boden liegen. Es tat ihm alles weh. Er konnte nicht aufstehen. Herr Schoppenstecher riss ihn hoch und flüsterte zornig: »Wenn du auch nur ein Wort sagst!« Aber der Hirbel brach wieder zusammen. Das beunruhigte Herrn Schoppenstecher. Er lief weg, holte einen nassen Lappen und legte ihn Hirbel aufs Gesicht. Er sagte: »Du verträgst doch Schläge, du bist doch ein abgeschlagener Hund.« Hirbel ging es ein wenig besser. Jetzt spielte er den Verletzten. Er stöhnte immer lauter, wälzte sich hin und her, und Herr Schoppenstecher geriet in große Angst. »Was soll ich bloß machen?« jammerte er. Das war dem Hirbel egal. Jetzt hatte er Herrn Schoppenstecher. Herr Schoppenstecher hob ihn auf und trug ihn in seine Wohnung. So lernte Hirbel Schoppenstechers Wohnung kennen. Frau Schoppenstecher war nicht da. Er legte Hirbel aufs Sofa. In der Wohnung roch es nach Most. Herr Schoppenstecher roch nach Most. Er beugte sich über ihn, blies ihm seinen Most-Atem ins Gesicht, und dem Hirbel wurde übel. »Steh auf, Bub«, flehte Herr Schoppenstecher. Hirbel dachte nicht daran, aufzustehen. Er sagte: »Wo sind Müller-Maier?« Herr Schoppenstecher stellte fest: »Die braucht’s jetzt nicht.« Hirbel sagte: »Aber Frau Direktorin.« Da fuhr Herr Schoppenstecher zusammen. Er riss ihn hoch und herrschte ihn an: »Geh! Du musst doch gehen können!« Hirbel brach gekonnt zusammen. Er hätte nie gedacht, dass er Herrn Schoppenstecher so in der Hand haben würde. Und wie! Hirbel stöhnte großartig. Er begann am ganzen Leib zu zittern, verdrehte die Augen und ließ die Zunge aus dem Mund hängen. Herr Schoppenstecher fürchtete, der Hirbel könnte ihm unter den Händen wegsterben. Er rannte zum Zimmer hinaus und kam nach einer Weile mit der Direktorin zurück. »Das Kind«, sagte er kläglich und wies auf Hirbel, der sich am Boden liegend krümmte, winselte und das Weiß seiner Augen sehen ließ. »Ein Anfall?« fragte die Frau Direktor. »Jawohl«, sagte Herr Schoppenstecher, »ein Anfall. Ich habe ihn gefunden, den armen Kerl.« Hirbel fürchtete, dass sein Sieg doch nicht so ausfallen würde, wie er wollte, stand mit einem Satz auf, zeigte auf Herrn Schoppenstecher und rief: »Geschlagen, geschlagen hat mich der!« Die Direktorin nahm ihn an der Hand, führte ihn hinaus, sagte, der Doktor komme gleich, er solle warten, und ging zu Herrn Schoppenstecher zurück. Hirbel hörte nicht, was sie ihm sagte, aber er war sicher, dass Herr Schoppenstecher ihn nie mehr verprügeln würde. Das hat er auch nicht mehr getan. Doch jedes Mal, wenn Herr Schoppenstecher den Hirbel sah, knurrte er wie ein gefährlicher Schäferhund. Hirbel hatte ihn besiegt. |
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© 13.12.2010 HansiHerrmann.de
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