📖 Das war der Hirbel 05/15
von Peter Härtling

Kapitel 03

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Hirbels Kampf mit den Schafen

Solche Heime wie das, in dem der Hirbel länger blieb als andere Kinder, sind von Städten eingerichtet, damit Kinder, die aus Waisenhäusern abgehauen sind, die von ihren Eltern oder Pflegeeltern schlecht behandelt wurden, die gar keine Eltern haben und streunen, für eine Zeit lang Unterkunft haben. Dort werden sie von Ärzten untersucht, von Psychologen ausgefragt – also von Leuten, die erfahren wollen, warum die Kinder mit anderen Leuten nicht umgehen können, warum sie immer zornig sind, warum sie immer weinen. Und am Ende entscheidet man, ob sie zu neuen Pflegeeltern, in ein Heim oder in eine Klinik kommen.

Beim Hirbel konnte man sich nicht so recht entscheiden, denn er war kränker als alle anderen Kinder, und er war, wie die Leute sagten, “einfach nicht gut zu haben”. Im Grund war Hirbel von allen ausgestoßen. Wahrscheinlich verstand er das nicht, aber er zeigte sehr deutlich, dass er die Leute, die mit Mühe heuchelten oder vortäuschten, nett zu sein, überhaupt nicht mochte.

Der einzige Mensch, den er sehr gern hatte, war seine Mutter, und die kümmerte sich nicht um ihn. Es war nicht herauszukriegen, wo sie lebte und was sie tat. Zu den Besuchen tauchte sie von irgendwoher auf.

Ein wenig schloss er sich auch Fräulein Maier an. Aber er blieb misstrauisch. Es gelang ihm immer wieder, sich von Gruppen, die spazieren gingen, zu entfernen. Dann schrien alle, sobald sie es bemerkten: »Der Hirbel ist ausgerissen!« Das geschah mindestens einmal in der Woche. So waren die Leute im Heim fortwährend auf der Suche nach Hirbel. Weil sie ihn gern hatten, riefen sie die Polizei nicht an, denn dann hätten sie Hirbel in ein “geschlossenes Heim” geben müssen. Das wollten sie nicht.

Einer seiner Ausreißversuche endete bei den Schafen. Von diesem Abenteuer erzählte er sogar, was er sonst nicht tat. Da er nicht ganze Sätze reden konnte, sondern nur Wörter – und Flüche –, hatte er keine Lust, viel zu erzählen. Das Erlebnis mit den Schafen war für ihn so überwältigend, dass er mit einem Mal in Sätzen reden konnte.

Müller-Maier hatten mit ein paar Mädchen und ein paar Jungen einen Ausflug gemacht, auf die Hügel in der Nähe der Stadt. Dort war es schön, dort konnte man verstecken spielen, herumrennen und auf Städte und Dörfer hinuntergucken. Der große Georg war, wie immer, der Anführer. Er gebärdete sich toll. Auch Müller-Maier mussten ihm folgen. Sie taten es gern, da Georg geschickt war und sich auf den Hügeln auskannte. Sie versteckten sich, der große Georg war kaum zu finden, die Suche dauerte lang, aber nach einer Weile fehlte nur noch einer: der Hirbel.

Man durchsuchte alles: die kleinen Erdhöhlen, hohle Bäume, sie suchten unter Büschen und schauten auf jeden Baum hinauf, da Hirbel fantastisch klettern konnte. Er war nicht mehr da. Also war der Hirbel wieder einmal abgehauen.

Fräulein Müller ging mit den meisten Kindern zurück ins Heim, Fräulein Maier, der große Georg und ein paar andere Jungen suchten nach Hirbel. Sie riefen, sie schwärmten aus, sie durchsuchten noch einmal die ganze Gegend – keine Spur von Hirbel. Als es dunkel wurde, brachen sie die Suche ab.

Eigentlich hätten Müller-Maier jetzt der Direktorin des Heimes Bescheid sagen müssen. Sie taten es nicht. Sie hofften, der Hirbel würde von allein wiederkommen. Oder jemand würde ihn bringen. Sie hatten große Angst um ihn. In der Nacht blieben Müller-Maier wach und fuhren jedes Mal hoch, wenn ein Auto die Straße entlang kam. Keines hielt an, niemand klingelte und sagte: Hier ist der Junge, der wohl zu ihnen gehört.

Der Hirbel trug um den Hals, wie die anderen Kinder, eine Schnur, an der ein Schild befestigt war. Auf dem Schild stand sein Name und die Adresse des Heimes.

Am nächsten Tag, die Heimkinder saßen gerade beim Mittagessen, wurden Müller-Maier nach draußen gerufen. In der Tür stand ein alter bärtiger Mann, der trug den Hirbel auf seinen Armen, als wäre er eine Feder. Der Hirbel war ganz blass und zitterte, obwohl es warm war.

Der alte Mann sagte lächelnd: »Der Bursche gehört doch zu Ihnen, nicht wahr? Das ist wohl ein Kerl. Der hat meine ganze Herde durcheinandergebracht.«

Während er das sagte, streichelte er dem Hirbel über den Kopf. So schlimm muss es mit der Herde doch nicht gewesen sein.

Er stellte den Jungen vor sich hin und sagte: »Du kannst mich ja mal besuchen kommen.«

Eines der älteren Mädchen nahm Hirbel mit in den Speisesaal. Müller-Maier baten den Schäfer ins Haus, und er erzählte Hirbels Geschichte, die Hirbel dann anders erzählte.

Auf den Hügeln um die Stadt herum gibt es noch ein paar Schafherden, nicht mehr viele, und über eine der Herden wacht der Schäfer. Seine Herde ist auch die, die das Gras auf dem Flughafen fressen darf. Der Schäfer sagt dazu: Wir sind eine natürliche Mähmaschine. Er sei, erzählte der Schäfer, am Abend vor seinem Karren gesessen – bei dem schönen Wetter! Es sei ihm aufgefallen, dass die Hunde sich unruhig gebärdeten. Die Schafe seien ruhig geblieben. »Aber dann!« rief er. »Plötzlich wogte die Herde hin und her. Es kam mir vor, als säße ich am Meer oder an einem großen See und sehe Wellen vor mir. Immer hin und her. Die Hunde bellten wie verrückt. Aber sie trauten sich nicht in die Herde hinein! Sie können sich denken, dass mir angst und bange wurde. Ich dachte zuerst, ein Fuchs ist in die Herde eingebrochen oder ein streunender Hund. Aber da hätten meine Hunde anders reagiert. Die hatten ja Angst.

Ich ging zur Herde und suchte nach dem Grund für ihre Unruhe. Ich fand ihn lange nicht. Immer wieder musste ich mit meinen Schafen hin und her rennen. Die Lämmer blökten und waren außer sich. Mir kam er so vor, als sei in alle ein böser Geist gefahren und als seien alle krank. Oder als müsste im nächsten Moment ein Gewitter niedergehen, da führen die Schafe sich ähnlich auf. Ich sah nichts. So versuchte ich, in die Mitte der Herde hineinzukommen. Fortwährend wurde ich umgerissen. Meine Schafe taten so, als würden sie mich nicht mehr kennen. Es wurde dunkel. Ich fand nichts. Ich ging wieder zu meinem Karren, setzte mich hin und sah dem merkwürdigen Schauspiel zu. Allmählich wurden die Schafe ruhiger, die Hunde hörten auf zu bellen. Weil es mir zu dumm war, weiter zu grübeln, was denn los ist, ging ich schlafen. In der Nacht wachte ich ein-, zweimal auf, weil meine Schafe wieder verrückt waren.

Am Morgen wollten wir weiterziehen. Ich pfiff den Hunden, sie trieben die Herde vor sich her. Da sah ich den Burschen. Mitten unter den Schafen! Mit einem großen, schwarzen Hut und einem zerfetzten Mantel, den er hinter sich herschleppte, weil er ihm viel zu lang war. Eine wandelnde Vogelscheuche. Ich packte den Kerl. Sie können sich denken, ich hatte eine Sauwut. Aber das Büble starrte mich selig an und sagte immer wieder: Lauter Löwen, lauter Löwen! Ich sagte zu ihm: Du bist ja blöd, das sind Schafe. Der hat noch nie Schafe gesehen. Ich fand das Schildchen, und da sind wir. Tun Sie ihm nichts. Er ist lieb. Er konnte ja nichts dafür. Wenn er noch nie Schafe gesehen hat. Das sind halt die Stadtkinder.«

Wochen später kriegte Hirbel seine Geschichte heraus. Fräulein Maier hörte zufällig wie er sie Renate, einem Mädchen, das er ein bisschen schätzte, erzählte: »Da bin ich fort. Immer runtergerannt. Da war hohes Gras. Und ein böser Mann. Vor dem habe ich Angst gehabt. Aber er hat nix getan. Er war aus Holz. Dem sein Hut habe ich geklaut. Dem seine Jacke auch. Und bin weg. Es war wie in Afrika. Und eine Wüste, wo die Löwen sind. Und die Löwen sind gekommen. Hundertmillionen. Alle zusammen. Mit Hunden. Auch ein Spitz. Die haben mich angeschnuppert. Die waren gut zu mir. Lauter gute Löwen. Es war richtig schön. Mit den Löwen habe ich geschlafen.«

Niemand konnte Hirbel ausreden, es seien keine Löwen gewesen, sondern Schafe. Darauf antwortete er störrisch: »Schafe gibt’s nicht, aber Löwen.«





© 13.12.2010 HansiHerrmann.de