📖 Das war der Hirbel 04/15
von Peter Härtling

Kapitel 02

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Hirbels Hose

Die Jungen zwischen sechs und zehn schliefen in einem Saal, der so groß war wie ein Wartesaal in einem kleinen Bahnhof. Die Betten standen eng nebeneinander. Es war nicht viel Platz zum Hin- und Herrennen, darum tobten die Jungen auf den Betten, sprangen über die kleinen Gräben, hüllten sich in die Leinentücher, warfen mit den Kissen. Jeden Abend war das so. Am Morgen nicht, denn da mussten sie früh aufstehen, sich waschen und waren alle noch müde. Am Abend war der Krach im Schlafsaal unglaublich. Jeder brüllte, was seine Seele hergab.

Fräulein Müller sagte zu Fräulein Maier, ehe die zum ersten Mal in den Schlafsaal der Jungen ging: »Es ist am besten, Sie versuchen gar nicht erst, etwas zu sagen, bei dem Lärm hört doch keiner was. Geben Sie mit den Händen Zeichen.«

Schon auf dem Gang vor dem Saal schlug der Neuen der Höllenlärm entgegen. Sie hatte Angst. Als sie in das Zimmer trat, wirbelten alle Buben durcheinander. Sie achteten gar nicht auf sie. Sie machte, wie Fräulein Müller es ihr geraten hatte, mit den Händen Zeichen, zeigte auf die Betten, legte ihre Hände an die Backen, was heißen sollte: »Ihr müsst jetzt schlafen!« Doch keiner achtete auf sie. Sie versuchte, gegen den Krach anzubrüllen. Keiner hörte sie. Da begann sie zu lachen, und das fiel den Jungen auf.

Ein paar stellten sich um sie herum, schauten ihr beim Lachen zu und fragten am Ende: »Warum lachst du?«

Fräulein Maier sagte: »Weil das alles komisch ist. Ihr seid ja verrückt.«

Georg, der Älteste im Zimmer, er war schon fast ein halber Mann und größer als Fräulein Maier, sagte: »Wir haben noch keine Lust zum Schlafen.«

Der Krach legte sich.

Fräulein Maier sagte: »Ich habe nichts dagegen, wenn ihr das jeden Abend macht, nur möchte ich mitmachen, und irgendwann müsst ihr ruhig sein, damit die Kleinen schlafen können. Die sind schon ziemlich müde.«

Jetzt war es still im Saal, nur eine Stimme heulte noch gewaltig aus irgendeiner Ecke.

Fräulein Maier fragte: »Wer ist das?«

Georg sagte: »Das ist der Hirbel, der spinnt.«

Sie schaute sich im ganzen Zimmer um, doch sie konnte den schreienden Hirbel nicht entdecken. »Heißt er wirklich Hirbel fragte sie Georg.

»Ich glaube, eigentlich heißt er Karlotto, aber Hirbel hieß er schon, ehe er zu uns kam. Ich weiß nicht, warum. Aber er sieht so aus, wie er heißt.«

Der Schrei hörte nicht auf. Hirbel musste einen endlosen Atem haben.

»Wo ist der Hirbel?« fragte sie.

Georg sagte: »Der sitzt im Schrank. Das ist sein Haus. Wir dürfen nicht an sein Haus. Er beißt, schlägt und kratzt.«

»Dann lassen wir ihn noch eine Weile dort, in seinem Haus«, sagte Fräulein Maier.

Georg fragte: »Wie heißt du?«

Sie sagte: »Maier.« Worauf einer rief: »Wie Müller.« Ein anderer rief: »Müller-Maier.« Nun hatten die beiden Frauen ihren Namen.

Sie bat die Kinder, sich die Zähne zu putzen. Die meisten taten das auch. Sie gingen in den Waschraum. Einige blieben zurück, taten nichts dergleichen, legten sich aufs Bett, blätterten in Comics und anderen Zeitschriften und schauten sie nicht an.

Der Hirbel schrie noch immer. Sie ging zum Schrank, aus dem das Gebrüll drang, und sie öffnete, als säße ein wildes Tier dahinter, vorsichtig die Tür. Die Tür quietschte. Im Schrank saß ein dünner Bub mit großem Kopf, der rot war vom Schreien. Er starrte sie an. Die blonden Haare standen ihm zu Berge.

Sie sagte: »Du bist also der Hirbel

Er brüllte weiter. Sie wusste noch nicht, wie alt er war und schätzte ihn auf fünf oder sechs Jahre. Fräulein Müller sagte ihr nachher: »Alle meinen, er ist sechs Jahre alt, in Wirklichkeit ist er fast zehn. Er ist wahnsinnig kräftig. Ich hätte Sie warnen müssen vor ihm.«

Müller-Maier anguckend, schrie der Hirbel unverdrossen weiter. Er war nackt. In seinen Händen hielt er zusammengeknüllt seine Unterhose wie einen Ball. Müller-Maier sagte eine Weile nichts. Die Jungen, die zurück geblieben waren, sahen dem erwartungsvoll zu. Hirbel nahm den Schrei allmählich zurück, und mit einem Male begann er zu singen: »Die blauen Dragoner, sie reiten.« Er sang rein, sehr schön, und Müller-Maier waren völlig durcheinander. Er regte sich nicht, hockte, die zusammengeknüllte Unterhose gegen die Brust gedrückt, und sang.

Müller-Maier wartete und wünschte sich, dass er bald aufhöre, obwohl sein Singen sie beeindruckte. Er dachte nicht daran, aufzuhören. Zaghaft fragte sie Hirbel: »Willst du nicht auch schlafen wie die anderen?« und setzte noch hinzu: »Die Zähne brauchst du dir ja gar nicht zu putzen.«

Er blickte sie weiter prüfend an und hörte mit dem Singen nicht auf. Sie wollte sich schon abwenden, fortgehen, als Hirbel jäh aufstand, auf die zusammengeknüllte Unterhose pinkelte und ihr das nasse Zeug ins Gesicht warf.

Müller-Maier ekelte sich, doch sie blieb stehen. Sie standen sich nun gegenüber: der winzige, dünne Junge mit dem rot angelaufenen großen Kopf und Müller-Maier, die Angst vor den Zwerg hatte.

Sie sagte: »Das war eine Sauerei eben.«

Da begann er wild zu lachen, sein ganzer Leib schüttelte sich vor Gelächter. Er sagte: »Aber ich habe gut getroffen.« Zwischen jedem Wort machte er eine Pause. Er sprach mühsam, nur wenn er sang, fielen ihm die Wörter leicht. »Kannst du dir nichts anderes einfallen lassen?« fragte Müller-Maier.

Hirbel schüttelte den Kopf.

»Gehst du jetzt schlafen?« fragte sie ihn.

Er kam aus dem Schrank heraus, ging an ihr vorüber, ohne sie anzusehen, und setzte sich auf sein Bett.

Die anderen Jungs flüsterten sich unaufhörlich was zu. Sie erzählten sich gegenseitig, wie Hirbel der Müller-Maier die vollgepinkelte Unterhose ins Gesicht geschmissen hatte. Müller-Maier fragte, ob sie das Licht ausmachen dürfe. Der große Georg sagte: »Ja.« Sie machte die Tür zum Schlafsaal zu.

Sie lehnte sich an die Wand und war müde wie nie zuvor. Zu Fräulein Müller sagte sie: »So fertig war ich noch nie.«

Fräulein Müller sagte: »Ja, der Hirbel kann einen fertig machen.«

Sie dachte sich: »Auf den Hirbel werde ich aufpassen.«





© 13.12.2010 HansiHerrmann.de