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Hirbel hält die Orgel anEin paar Mal musste der Hirbel in der Kirche singen. Mit anderen Kindern und auch allein. Er musste zu den Proben gehen, was er immer wieder vergaß. Dann waren Müller-Maier auf der Suche nach ihm, schrien im Heim herum, voller Verzweiflung, und der Hirbel saß in einem der Schränke im Mädchenschlafsaal. Er sang furchtbar gern, doch er hatte Angst vor den vielen Leuten. Wenn er einmal sang, konnte ihn niemand mehr aufhalten. Die Choräle und Lieder wurden ihm erst einmal von Fräulein Müller beigebracht. Er lernte schnell. Nicht, die Worte, die fielen ihm schwer. Und es kam immer wieder vor, dass er anstatt “O Haupt voll Blut und Wunden” lalala sang. Fräulein Müller war der Meinung, es sei nicht wichtig, dass er sich alles merke. Herr Kunz war nicht dieser Meinung. Herr Kunz war der Orgelspieler in der Kirche. Er quälte den Hirbel. Nicht, weil er den Hirbel nicht mochte, sondern weil es ihm, wie er beteuerte, um die Musik ging. Um die Kunst! Dem Hirbel war die Kunst egal. Er wusste gar nicht, was das ist. Und wenn Herr Kunz ihm das zu erklären versuchte, trat der Hirbel auf die Pedale der Orgel, zog Register – das sind die Knöpfe an der Orgel, die den Ton verändern – und brachte Herrn Kunz, der seine Orgel vor jedem fremden Zugriff hütete, in Wut. Er solle gefälligst aufpassen! Fräulein Müller erklärte ihm, der Hirbel könne gar nicht aufpassen. Dazu sei er nicht fähig. Der Hirbel passe nur dann auf, wenn ihm eine Sache sehr viel Spaß mache. Er sei aber nie lange aufmerksam. Damit müsse Herr Kunz rechnen. Er lehrte Hirbel, mit Orgelbegleitung zu singen. Das war nicht einfach. Hirbel konnte zwar sehr rasch Melodien begreifen, aber er sah nicht ein, warum die Orgel in der Begleitung anders “sang” als er. Jedes Mal wenn Herr Kunz und Hirbel zu Beginn übten, hörte Hirbel auf zu singen und sagte: »Das stimmt nicht.« Herr Kunz holte weit aus, sprach über Komponisten und Kompositionen, über Johann Sebastian Bach – und Hirbel verstand kein Wort. Wieder ging es los, und wieder brach der Hirbel den Gesang ab. Herr Kunz sagte: »Wenn der nicht eine solche Engelsstimme hätte, ich hätte ihn schon längst aus der Empore geworfen und aus der Kirche raus.« Sie probten erst allein und dann mit den Chor. In der Kirche war es immer ein wenig kalt, und Hirbel, der ungern mehr anhatte als Hemd und Hose, schlotterte so, dass seine Stimme beim Singen zitterte. In der Musik nennt man das Vibrato. Herr Kunz sagte: »Lass das Vibrato bleiben.« Hirbel hielt das für eine unanständige Sache und sagte: »Mit einem Vibrato will ich nichts zu tun haben.« »Das tust du aber«, rief, an der Orgel sitzend, zornig Herr Kunz. Hirbel wunderte sich über das, was er nicht tat und nach Meinung von Herrn Kurz doch tat. Er guckte an sich herunter, sah nach, ob das Hemd nicht aus der Hose hing und dies vielleicht ein Vibrato sei. Mit dem Herrn Kunz kam er eben nicht zurecht. Kaum sang er, war schon wieder das Vibrato da. Fräulein Müller begriff endlich, dass Hirbel eine Wolljacke anziehen müsse, damit es kein Vibrato mehr gab. Es hatte also doch etwas mit dem Hemd zu tun. Die erste Aufführung war an einem Abend, und die Kinder, die singen durften, freuten sich darüber, denn so lange blieben sie sonst nie auf. In der Dämmerung zogen sie über die Straße zur Kirche, und der Hirbel überlegte, ob er nicht doch noch abhauen sollte. Womöglich schreit ihn Herr Kunz wieder an, dass er das Vibrato tue, und dann musste er sich vor den vielen Leuten schämen. Außerdem hatte er noch immer nicht gelernt, richtig mit der Orgel zu singen, weil die Orgel nicht so klang wie seine Stimme. Müller-Maier ahnten, was der Hirbel überlegte, und hatten ihn in ihre Mitte genommen. Er war gefangen. Obwohl er die grüne Wolljacke anhatte, zitterte er wieder, und es war vorauszusehen, dass sich Herr Kunz über Hirbels Vibrato würde ärgern müssen. Der Hirbel ahnte von alldem nichts. Die Kirche war voll von Leuten, die die Kinder anstarrten. Darum kicherten die Kinder, und der Hirbel hatte Lust, die Zunge herauszustrecken. Das wollte er Müller-Maier nicht antun. Nur darum blieb die Zunge im Mund. Er hatte auch wieder arges Kopfweh, obwohl der Doktor ihm am Nachmittag eine “Extraspritze” gegeben hatte. Sie stellten sich auf der Empore vor der Orgel auf. Erst redete vorn in der Kirche ein Mann ziemlich lange, was Hirbel langweilte, so sehr, dass er sich auf den Boden setzte. Fräulein Müller, die hinter ihm stand, zog ihn wieder hoch. »Es dauert nimmer lang, Hirbel, bis du dran kommst«, sagte sie. Mit einem Mal rauschte die Orgel los, und Hirbel wollte zu singen beginnen, doch Fräulein Müllers Hand fuhr ihm ins Gesicht und hielt ihm den Mund zu. »Jetzt noch nicht«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »das ist doch das Vorspiel, Hirbel. Das haben wir dir doch tausendmal gesagt.« Hirbel konnte sich nicht daran erinnern. Nach dem Vorspiel sang der Chor, und Hirbel sang nach Leibeskräften mit. Dann endlich war er dran. Fräulein Müller flüsterte ihm ins Ohr: »Jetzt kommst du!« Herr Kunz ließ die Orgel dröhnen, was Hirbel wiederum für falsch hielt, und er entschloss sich, nicht zu singen. Herr Kunz hörte mit dem Spielen auf, alle Leute schauten nach oben, und Herr Kunz begann auf dem Orgelstuhl mit den Armen zu wedeln, den Mund auf- und zuzumachen. Es starrte Hirbel so an, dass er Angst kriegte. Fräulein Müller sagte jetzt sehr laut: »Das ist doch deine Begleitung. Du musst mitsingen.« Wieder begann Herr Kunz zu spielen. Hirbel versuchte mit einem lang angehaltenen Ton die Begleitung zu erreichen. Er schaffte es nicht. Er fand das Orgelspiel falsch. Das passte nicht zu ihm. Herr Kunz stand wütend auf. Vorn in der Kirche murmelten die Leute und standen zum Teil auch auf. Hirbel erwartete, dass Herr Kunz ihn verdreschen würde. Das tat er nicht. Er schüttelte den Kopf, sagte etwas zu Fräulein Müller, was Hirbel nicht hören konnte, und Fräulein Müller befahl ihm zu singen. Jetzt ohne Orgel. Hirbel dachte daran, dass Herr Kunz womöglich wieder das Vibrato an ihm finden würde und sagte: »Lieber nicht.« Fräulein Maier sagte: »Doch!« Alle warten darauf. So sang Hirbel. Keiner störte ihn mehr, nicht der Herr Kunz und nicht der Chor. Er fand, dass seine Stimme in der Kirche sehr schön klang. Er sang immer lauter und immer sicherer. Viele Sätze hatte er vergessen. Die ersetzte er durch lalala. Als er fertig war, umarmte ihn Fräulein Maier, und selbst Herr Kunz kam sofort und streichelte ihm über den Kopf, sagte: »Ich möchte bloß wissen, woher du das hast.« Der Hirbel war sehr stolz und sagte: »Und das Vibrato war auch nicht da.« »Nein«, sagte Herr Kunz. Die Leute unten in der Kirche klatschten. Fräulein Müller schenkte ihm die grüne Jacke, die sie ihm geliehen hatte. Beim nächsten Konzert in der Kirche spielte Herr Kunz, wenn der Hirbel sang, nicht mehr die Orgel. |
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© 13.12.2010 HansiHerrmann.de
Letzte Änderung: 08.09.2025 21:41:52
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