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Hirbel entlarvt EdithAußer Georg mochte keines der Kinder den Hirbel. Sie hatten Angst vor ihm. Er war kränker und böser als sie. Das meinten die anderen Kinder. Das stimmte nicht. Aber selbst Müller-Maier konnten ihnen diese Meinung nicht ausreden. Außerdem war er der Junge, der am meisten Unruhe ins Heim brachte. Mit ihm bekam man Krach, und er lief dauernd weg, und man musste ihn suchen. Vor den Mädchen hatte Hirbel die größte Angst. In einem anderen Heim hatte er ein Mädchen gekannt, das ihn dauernd gequälte hatte. Es hatte ihm schreckliche Geschichten von Mördern und Gespenstern erzählt, und sie hatte ihm, wenn sie alleine waren, immer den Arm schmerzhaft auf den Rücken gedreht. Darum wich er Mädchen aus. Er hatte von seinem zweiten Pflegevater gehört, dass Weiber Teufel seien, und jetzt behauptete er immer, Weiber sind Teufel. Obwohl Müller-Maier zum Beispiel keine waren, und Frau Direktor auch nicht. Das war ihm egal. Die Edith war einer, da war er sicher. Kam sie nur in seine Nähe, haute er ab. Sie war groß, dick und sah aus wie eine richtige Frau. Sie war zwölf oder dreizehn. Sie schien ihm gemein und gefährlich. Im Schlafsaal der Mädchen war die der Häuptling. Wie Georg bei den Jungen. Ihr gehorchten alle. Wenn es Krach gab mit Hirbel oder wegen ihm, behauptete Edith stets, sie hätte alles schon vorher gewusst. Der Hirbel ist nicht zu retten, schrie sie. Er macht alles durcheinander! Und als die kleine Irene davongelaufen war, die Leute aus dem Heim sie Tag und Nacht gesucht hatten und sie von der Polizei zurückgebacht wurde, der Hirbel habe Irene dazu gebracht. Fräulein Maier hielt das für unwahrscheinlich. »Doch! Doch!« sagte Edith. »Ich weiß es. Der Hirbel hatte Irene erzählt, wie schön es draußen ist. Auch die Sache mit den Löwen.« Hirbel, von Fräulein Maier zur Rede gestellt, erschrak über die schlimme Nachrede von Edith und bestritt, dass er je mit Irene geredet habe. »Das ist alles nicht wahr«, stotterte er. »Die blöde Sau lügt.« Fräulein Maier wies ihn zurecht. Er solle solche Ausdrücke nicht gebrauchen. »Aber wenn die doch eine blöde Sau ist«, sagte Hirbel, »und dazu noch lügt.« Nachdem Irene fortgelaufen war, verschwanden zwei weitere Mädchen, mussten gesucht werden, und Herr Winkler vom Jugendamt, der extra kam, behauptete: »Hier ist der Wurm drin. Hier stimmt was nicht.« Auch er war der Meinung, Hirbel sei an allem schuld. Deshalb nahm Fräulein Maier ihn wieder ins Gebet, horchte ihn aus und drohte ihm, er müsse aus dem Heim weg, der Mann vom Jugendamt habe es befohlen, wenn auch nur eine aus dem Mädchenschlafsaal ausreißt. Und es passierte von neuem. Hirbel wusste sich nicht mehr zu helfen. Sie kreisten ihn ein. Sie machten ihm Angst. Und er war doch unschuldig. Er hatte oft schuld an vielem. Er hatte erst unlängst die Hasen des Nachbarn befreit. Er hatte, als er den Wasserhahn am Waschbecken im Flur reparieren wollte, ihn aus Versehen aus der Wand gebrochen, er hatte der Direktorin Honig auf den Rock geleert – aber daran hatte er keine Schuld. Hirbel war nicht so dumm, wie die anderen meinten. Wenn Fräulein Maier ihm schon nicht glaubte, musste er sich selber helfen. Das wusste er. Also geschah mit Hirbel eine seltsame Verwandlung. Er befasst sich mit den Mädchen, er wich ihnen nicht mehr aus. Zwar lachten sie ihn aus, wenn er anfing zu stottern, keinen ganzen Satz herausbrachte, doch sie waren entzückt, wenn er ihnen vorsang oder kleine Geschenke machte: lebendige Schnecken, einen Frosch, den er gefangen hatte und in einer Konservenbüchse aufbewahrte, und die schönen bunten Schnüre, die er sammelte. Er verteilte sie scheinbar wahllos, verfolgte jedoch einen Plan. Er wollte die Mädchen aushorchen, denn die konnten nicht so mir nichts dir nichts, ohne dass ihnen jemand etwas eingeredet hatte, weglaufen. Hier im Heim war es doch gar nicht so übel, meinte Hirbel, obwohl es auch wieder arg war. Er fragte die Mädchen, wer ihnen das erzählt habe von den Löwen, denen er begegnet ist. »Das sind meine Löwen«, sagte er. »Die sieht kein anderer. Die kommen nur zu mir.« Die Mädchen sagten erst nichts. Nach ein paar Tagen hartnäckiger Fragerei erfuhr er, wer ihm seine Löwen weggenommen hatte: Edith. Sie hatte den Mädchen erzählt, dass Hirbels Löwen ganz in der Nähe auf einer Wiese weideten und so zahm seien wie Hunde oder Kanarienvögel. Sie wüssten gar nicht mehr, dass man auch Menschen fressen kann. Jetzt war es Hirbel klar, dass die Edith ihn hatte hereinlegen wollen. Sie wünschte, dass er aus dem Heim weggeholt werde. Er hasste sie. Sie war eine Hexe. Aber wie sollte er Fräulein Maier erklären, dass nicht er, sondern Edith die Mädchen aus dem Hause trieb? Er hatte eine Idee. Er ging zu Fräulein Maier und sagte: »Ich möchte spielen.« Fräulein Maier sagte: »Du spielst doch den ganzen Tag.« Hirbel geriet entsetzlich ins Stottern, brachte kein vernünftiges Wort heraus, und endlich brüllte er: »Das Spielerinnen-Spiel.« Fräulein Maier erklärte: »Dazu habe ich jetzt keine Zeit, Hirbel.« »Du, du musst«, rief Hirbel, »ist wichtig.« Fräulein Maier verschob das Spiel auf den Abend. Nach dem Abendessen sagte sie: »Wenn du unbedingt willst.« »Ist wichtig«, beteuerte er nochmals. Am Abend holte Fräulein Maier den Hirbel, erklärte ihm jedoch, dass sie sein auswendig gelerntes Spiel schon kenne. »Ist ein anderes«, sagte Hirbel. Er setzte sich Fräulein Maier gegenüber an den Tisch, betrachtete alle Figürchen, nahm vier Bausteine, und sagte zu Fräulein Maier: »Das sind Löwen.« Sie sagte: »Wenn du willst.« Er stellte die Löwen an die äußerste Ecke des Tisches und erklärte: »Die sind auf der Wiese, beim Schäfer, weißt du?« »Ja, ich weiß«, sagte Fräulein Maier, »das sind deine Löwen.« »Meine Löwen!« beteuerte Hirbel zornig. »Bloß meine! Nicht der Edith ihre!« Fräulein Maier sagte: »Edith kennt deine Löwen gar nicht.« Hirbel begann zu verzweifeln. In der gegenüberliegenden Ecke des Tisches, weit weg von den Löwen, baute er so etwas wie ein Haus, in das er eine Menge Figürchen stellte. »Das Heim«, sagte er. »Wir sind’s.« »Ja, das ist richtig«, versicherte Fräulein Maier. Hirbel zeigte auf eine große Figur und sagte: »Alle Weiber sind Teufel.« »Das ist Blödsinn«, sagte Fräulein Maier. »Oder nicht alle«, sagte Hirbel. »Aber die da außen.« Fräulein Maier sagte: »Spiel weiter, Hirbel.« Er merkte, dass sie nun genau aufpasste. Er schob ein paar kleinere Figürchen auf die größere zu und erklärte: »Die da erzählt was.« »Was denn?« fragte Fräulein Maier. Hirbel starrte sie einen Augenblick an und sagte: »Jetzt sag’ ich nichts mehr.« »Dann spiel«, forderte ihn Fräulein Maier auf. Er spielte. Die kleinen Figürchen drängten sich immer mehr um die größere dicke. Die ließ er herumhopsen, und sein Mund bewegte sich, als würde er wild reden. Dann legten sich fast alle Figürchen hin, auch die dicke, nur eine blieb stehen, und mit der wanderte er hinüber zu den Löwen. Er stellte das Figürchen zwischen die Löwen und schaute Fräulein Maier erwartungsvoll an. »Das habe ich nicht gelernt«, sagte er, »das ist neu.« Fräulein Maier nickte und sagte: »Ich hab’ dich schon verstanden, Hirbel. Wenn du nicht mehr spielen magst, kannst du jetzt gehen.« »Hast du’s wirklich gesehen?« fragte er. »Ja«, sagte Fräulein Maier. Sie brachte ihn in den Schlafsaal. Die anderen waren schon in den Betten. Dennoch ging sie zu den Mädchen, holte sich Edith, das hörte der Hirbel noch, und freute sich. Keines der kleinen Mädchen lief mehr fort. Fräulein Maier sagte zu der Direktorin: »Der Hirbel ist doch klüger, als wie glaubten.« |
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© 13.12.2010 HansiHerrmann.de
Letzte Änderung: 08.09.2025 21:41:53
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