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Hirbel stellt sich krankHirbel weiß gut, was krank ist. Er kennt viele Schmerzen. Der Kopf tut ihm oft weh, die Ohren können ihm brausen, er hat manchmal Schwindelanfälle und auch Bauchschmerzen von den Mitteln, die er bekommt. Im Grunde ist er dauernd krank. Das ist ihm egal, solange er herumhüpfen kann und der schmerzende Kopf ihm nicht allzu große Mühe macht. Einmal hat er solches Kopfweh gehabt, dass er sich nicht anders helfen konnte, als mit dem Kopf gegen die Wand in seinem Zimmer zu rennen. Sein Pflegevater sagte: »Der Hirbel ist verrückt geworden.« Er begriff nicht, dass Hirbel nur den Schmerz weghaben wollte und keinen Ausweg mehr sah. Denn Hirbel konnte es auch nicht sagen. »Da tut’s weh!« schrie Hirbel und zeigte immer wieder auf seinen Kopf. Sein Pflegevater sagte; »Ja, ja, der Kopf, das ist mir schon klar.« So konnte keiner den Hirbel verstehen. Hirbel hatte schon viele Ärzte kennengelernt. Manche gingen grob mit ihm um, andere waren lieb zu ihm. Er kannte ein böses Wort, vor dem er sich fürchtete: Unheilbar. Zu Fräulein Maier hatte er gesagt: »Ich bin gar nicht unheilbar, ich kann doch rennen und spielen.« Der Doktor, der jeden Tag ins Heim kam, war besonders lieb zu ihm. Er hieß Karl Kremer und sagte zu ihm: »Meine Kinder nennen mich Karolus. So kannst du mich auch rufen.« Er erzählte ihm, dass seine Kinder gar nicht seine Kinder seien, sondern Kinder, die im Heim gewesen sind, wie er. »Drei hab ich jetzt schon«, sagte Karolus. Hirbel fand das fabelhaft und strengte sich an, weil er hoffte, ein Kind von Karolus zu werden. Aber das war nicht so einfach. Manchmal herrschte Karolus ihn an, erklärte ihm, er sollte nicht dauernd dummes Zeug machen, solle sich bemühen, wenigstens mit Fräulein Maier und Fräulein Müller richtig zu reden. Mach’s Maul auf, sagte Karolus. Karolus wollte auch wissen, was Hirbel sich tagsüber ausdenke und wovon er träume. Das dauerte immer lange, denn so einfach waren die Worte für die Sachen, die er dachte, nicht zu finden. Eine Geschichte hatte Karolus besonders gefallen. Hirbel hatte erzählt: »Ich bin vom Heim weg. Ich hab’ mir Brot mitgenommen. Dass ich nicht verhungere. Ich will weit weg. Ich will zu dem Land, wo die Sonne gemacht wird. Da wird sie immer an den Himmel gesteckt. Wenn’s hell wird. Ich möcht sehen, wer das macht. Das sind viele Leute, weil die Sonne schwer ist. Die muss man hochheben. ob man sich die Finger verbrennt dran, sag? Aber die Sonne geht immer höher. Die Leute schmeißen sie in den Himmel. Sie ist weich und hell.« Karolus erklärte ihm, dass die Sonne weit weg von der Erde sei, viele Millionen Kilometer, ein Stern, ein großer Stern, um den sich die Erde drehe. Der Hirbel sagte: »Die Erde dreht sich nicht. Die Erde hat ein Ende.« Karolus widersprach ihm: »Die Erde ist rund, sie ist keine Scheibe.« Das war dem Hirbel zuviel, er brach das Gespräch ab und sagte: »Das ist nicht wahr. Dummes Zeug.« Dummes Zeug, sagte er oft. Das war das Lieblingswort seines ersten Pflegevaters gewesen. Für den war alles, was Hirbel gesagt hatte, dummes Zeug. Darauf hatte Hirbel beschlossen, ebenfalls alles, was andere sagten, für dummes Zeug zu halten. Karolus rief ihn stets in ein Zimmer, das für den Doktor eingerichtet war. Dort gab es einen kleinen Tisch, auf dem Spritzen und Tabletten lagen, und ein Waschbecken, an dem sich Karolus fortwährend die Hände wusch. Hirbel kämpfte eifrig um die Aufnahme in die Kinderschar des Doktors. Karolus tat jedoch nichts dergleichen. Er sagte ihm nicht: Komm zu mir nach Hause, du kannst mein Kind sein. Hirbel fragte sich, warum er das nicht tat. Wahrscheinlich hatte er einen Fehler, den der Doktor für arg hielt. Vielleicht würde der Doktor ihn mitnehmen, wenn er richtig krank würde. Also beschloss Hirbel, ungeheuer krank zu werden. Solche Spiele beherrschte er. In den Krankenhäusern hatte er Kinder kennengelernt, die konnten Fieber kriegen, wenn sie wollten. Die steckten das Fieberthermometer in warme Milch oder rieben es am Arm, dann hatten sie Fieber. Fieber war noch zu wenig für Karolus. Er musste mehr kriegen, eine tolle Krankheit. Hirbel beschloss, sich nicht mehr bewegen zu können. An einem Morgen blieb Hirbel im Bett liegen. Fräulein Müller, die die Kinder wecken musste, kam zu ihm und sagte: »Hirbel steh auf.« Er rührte sich nicht. Fräulein Müller holte Fräulein Maier, weil die sich besser mit ihm verstand, und Fräulein Maier setzte sich an den Bettrand, sagte leise und bittend: »Hirbel, du kannst doch aufstehen. Dir ging’s doch gestern noch gut. Was ist denn los?« Der Hirbel starrte an die Decke, sein Leib war wie aus Holz, die Beine steif, die Arme steif, nichts regte sich in seinem Gesicht. Fräulein Maier schien es so, als könne er sie gar nicht hören. Sie fragte: »Hast du Hunger, Hirbel?« Hirbel rührte sich nicht. Sie nahm ihm die Decke weg und sah ihn an. Er war so steif, dass sie Angst bekam. »Ich werde den Doktor rufen«, sagte sie. Karolus kam, redete auf ihn ein. Der Hirbel blieb weiter steif. Karolus tastete ihn ab, mit flinken, leichten Händen, das kitzelte ein bisschen, doch der Hirbel blieb aus Holz. Karolus erklärte Fräulein Maier, solche Fälle kenne er. Das könne lange dauern, und es sei besser, man bringe das Kind in eine Klinik. Als Hirbel hörte, er solle in eine Klinik gebracht werden, durchfuhr ihn der Schreck. Doch er beschloss, so lange zu warten, bis es soweit war. Reglos lag er stundenlang da, die Kinder tobten um ihn herum, er war weg, er war krank. Am Nachmittag kamen zwei Krankenträger mit einer Bahre. Karolus ging hinter ihnen her, zeigte auf den Hirbel und sagte: »Das ist der Patient.« Die beidem Männer stellten die Bahre neben das Bett und hoben den Hirbel wie ein Brett auf die Bahre. »Das ist unglaublich, sagte Karolus.« Sie hoben die Bahre hoch und trugen ihn schaukelnd aus dem Schlafsaal die Treppe hinunter. Doch als sie die Haustür erreicht hatten, setzte sich der Hirbel mit einem Ruck auf, sprang von der Bahre herunter und lief wie ein Hase Haken schlagend davon. »Das habe ich mir doch gedacht«, sagte Karolus. Ein paar Tage später fragte Karolus den Hirbel: »Warum bist du denn so krank gewesen?« Der Hirbel gab ihm keine Antwort. Karolus sagte: »Hat dich jemand geärgert?« Der Hirbel nickte. »Wer?« fragte Karolus. Der Hirbel schüttelte den Kopf. Viel später fragte Hirbel Karolus, nachdem der ihm eine Spritze gegeben hatte: »Wieviel Kinder hast du jetzt?« Karolus antwortete: »Drei. Noch immer drei. Mehr können wir gar nicht unterbringen in unserem Haus.« Da lief ihm der Hirbel davon. Und Karolus verstand mit einem Mal die Krankheit von Hirbel. Karolus konnte den Hirbel nicht mit nach Hause nehmen, obwohl er ihn sehr gern hatte. |
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© 13.12.2010 HansiHerrmann.de
Letzte Änderung: 08.09.2025 21:41:53
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