Insekten nützlich

Insekten sind fliegende Apotheken

Insekten gelten vor allem als Plagegeister. Und doch könnten sie dem Menschen sehr nützlich sein: Sie beherbergen viele antimikrobielle Wirkstoffe, die nahezu gänzlich unerforscht sind. In Jahrtausenden haben Falter und Fliegen gelernt, sich im Wettstreit gegen krankmachende Bakterien und Pilze zu behaupten.

»Madentherapie – schon mal gehört?«, fragt Andreas Vilcinskas, ein international führender Insektenbiotechnologe vom Institut für Phytophathologie und Angewandte Entomologie in Gießen. Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg und dem Ersten Weltkrieg wurden Schmeißfliegen-Maden zur Wundbehandlung genutzt, da man bemerkt hatte, dass Soldaten, die verletzt zwischen den Fronten lagen und von den Fliegen heimgesucht wurden, häufig überlebten. Mit der Entdeckung des Penicillins gerieten die Nützlinge allerdings in Vergessenheit.

Gegenwärtig wird die Therapie mit Lucilia sericata, so der lateinische Name der Larven der Goldfliege, jedoch wiederentdeckt. Denn Forscher suchen fieberhaft nach brauchbarem Ersatz für gängige Antibiotika, da Resistenzen zunehmen und schwer behandelbare Wunden wie die offenen Füße bei Diabetikern neue Therapieansätze erfordern. »Die Erfolge mit den Maden sind derart spektakulär. Das glaubt immer keiner«, berichtet Vilcinskas. Mit Maden bepackt, heilten Wunden bis zu 18-mal schneller als unbehandelt. »Das sind Ergebnisse, die man mit keinem Medikament erzielt«, erläutert Vilcinskas.

Die deutsche Firma Biomonde produziert die Fliegenmaden unter sterilen Bedingungen in Arzneimittelqualität. In Großbritannien beliefert ZooBiotic 1.800 Krankenhäuser mit dem Gewürm. Nebenwirkungen und Resistenzen sind nicht bekannt. »Selbst bei neuen Antibiotika treten im Zulassungsverfahren oft schon Resistenzen auf«, erklärt Insektenbiotechnologe Helge Bode von der Universität Frankfurt am Main. »Wenn wir verstehen, wie Insekten diesem Problem über Millionen Jahre hinweg entgehen konnten, können wir unsere Medikamente insektenmäßiger einsetzen.«

Doch der Anblick der Maden und das Zwicken ihrer zubeißenden Münder ekelt viele Patienten. Deshalb entwickelt das zehnköpfige Wissenschaftlerteam um Vilcinskas zurzeit »eine Madentherapie ohne Maden«. Im Speichel der Insektenlarven konnte der Forscher verschiedene Eiweißmoleküle identifizieren, welche die Wundheilung fördern. Daneben entdeckten die Forscher Enzyme, die das abgestorbene Gewebe zersetzen, das nachwachsende aber verschonen.

In großen Metallbehältern wollen die Gießener diese Arzneistoffe nun künstlich herstellen und daraus eine Wundsalbe anrühren. »Wir können sogar besser werden als die Made, indem wir noch Wirkstoffe anderer Insekten zum Beispiel der Rattenschwanzlarve – das sind die Nachkommen der Mistbiene – hinzufügen«, skizziert Vilcinskas. Als einziges Lebewesen wachsen die Larven in Gülle- und Jauchegruben auf und zehren von den darin lebenden Bakterien.

»Sie haben keine Feinde in dieser Dreckbrühe. Aber sie müssen ein Superimmunsystem haben, um darin zu überleben«, vermutete der Forscher schon früh. Er injizierte den Larven im Labor Bakterien, damit diese ihre Abwehr stimulierten. Dann suchte sein Team nach den schützenden Eiweißmolekülen. »Wir haben auf Anhieb 19 verschiedene Substanzen gefunden, die gegen Bakterien oder Pilze wirken«, freut sich Vilcinskas. »Das ist eine richtige Schatztruhe.« In den ausgewachsenen Fliegen spürte die Arbeitsgruppe zudem 30 neue Gene mit Bauplänen für die potenziellen Arzneien auf.

Auf die Gene haben es die Insektenbiotechnologen abgesehen. Denn diese können die Forscher in das Erbgut von Bakterien einsetzen, die dann die gewünschten Wirkstoffe produzieren. Damit entsteht gewissermaßen eine Minifabrik für Insektenarzneien. Diese klassische Biotechnologie stößt jedoch an Grenzen, da die Eiweißstoffe der Maden und Larven spezielle Zuckerreste tragen und auf besondere Weise dreidimensional gefaltet sind. »Das können nur Insekten so herstellen. In Bakterien geht das nicht«, macht Vilcinskas klar. Der Forscher hat aber bereits eine Lösung für dieses Problem entdeckt. Die Gene werden in das Erbgut von Schmetterlingsblutzellen eingefügt. Diese können in speziellen Metallbottichen, auch Fermenter genannt, bequem vermehrt werden und geben dabei die Eiweißstoffe akkurat gefaltet frei.

»Die eigentliche Herkulesaufgabe besteht darin, die potenziellen Arzneien in ausreichenden Mengen bereitzustellen«, gibt Vilcinskas zu bedenken. »Wenn wir jetzt schon etwas hätten, das sehr vielversprechend wäre, würde es noch zehn bis fünfzehn Jahre dauern«, schildert Bode den üblichen Prozess. »Aber noch sind wir dabei, herauszufinden, welches Insekt und welche Arznei das größte Potenzial birgt.« Bis ein neues Therapeutikum aus der fliegenden Apotheke in den irdischen Filialen landet, dürften also noch etliche Jahre vergehen.

10.09.2010 © dapd




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