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Hirbels letzte Flucht und sein AbschiedNiemand hatte den Hirbel dazu gebracht, wieder abzuhauen. Niemand hatte ihn geärgert, keines der Mädchen, nicht einmal Herr Schoppenstecher. Und die Direktorin und Fräulein Maier waren nett zu ihm gewesen. Trotzdem war er fortgelaufen. Sein Kopf hatte sehr wehgetan, und er hatte – weshalb wusste er nicht – eine Weile kaum atmen können. Da dachte er, er müsse sterben. Als es wieder besser war, erinnerte er sich an die Löwen, von denen die Erwachsenen sagten, es seien Schafe gewesen, und er beschloss, für immer wegzugehen. Er wollte die Sonne sehen, die am Rande der Erde festgemacht war und rot glühte, oder den Mond, den ein schwarzer Riese wie eine weiße Mütze in den Himmel hielt. Er wollte mit den Löwen hin- und herrennen. Vielleicht hatte er auch Sehnsucht nach dem Löwenhüter, der ihn auf den Arm genommen, getragen und gewiegt hatte und dessen Kleider nach Löwen und Luft gerochen hatten. Er hatte nie jemandem gesagt, warum er fortgelaufen war. Er hatte im Schrank gewartet, bis alle Kinder eingeschlafen waren. Dann war er durchs Haus geschlichen – das konnte er gut, das hatte er geübt – und war zum Klofenster im Parterre hinausgeklettert. Am anderen Morgen, als Fräulein Maier feststellte, dass der Hirbel weg ist, rief die Direktorin die Polizei an. Das Jugendamt und der Fürsorger sagten: Der Junge muss in eine Klinik. Das sagte auch der Doktor. Aber sie hatten den Hirbel noch nicht. Der Hirbel war in die Richtung gelaufen, in der er die Löwenherde vermutete, hinauf auf die Hügel, in die Felder. In die Wälder hinein ging er nicht, weil er Angst hatte vor ihnen. Durch einen Wald aber musste er hindurch. Das tat er erst, nachdem er an einem Waldrand geschlafen hatte und am Morgen so viel Licht war, dass der Wald im keine Furcht mehr machte. Er wanderte auf den Wegen, sammelte Tannenzapfen und Eicheln, stopfte sie in seine Taschen, er sah auch zwei Rehe und einen Hasen und versuchte, ihnen nachzulaufen. Er hörte einen Traktor und versteckte sich hinter einem dicken Baum, bis das Geräusch verklungen war. Jetzt fand er den Wald eigentlich angenehm. Hier würde ihn niemand finden. Nur hatte er Hunger und Durst. Er kaute eine Eichel; doch die schmeckte grässlich, und er spuckte sie wieder aus. Er erinnerte sich, dass seine erste Pflegemutter immer Bucheckern gesammelt hatte. Er fand welche. Die meisten waren taub und leer, aber in einigen steckten die nach Öl schmeckenden Kerne. Von denen wurde er freilich nicht satt, und der Durst wurde immer größer. Er kam an einen Bach, in dem schwamm eine Menge Dreck. Er schöpfte mit der Hand Wasser an den Mund. Das Wasser schmeckte nach Benzin und Seife, und er spie es wieder aus. Hinter dem Wald war wieder ein kleiner Hügel, auf dem einige Häuser standen. Er setzte sich an den Waldrand und schaute zu den Häusern hinüber. Eigentlich mochte er Häuser, Wohnungen und Zimmer. Er war gern irgendwo zu Hause und fragte sich, warum die Erwachsenen das nicht zuließen. Aber die sagten immer zu ihm, er sei bös, dumm und gefährlich. Hirbel fand, dass er das alles nicht sei. Da der Hunger und der Durst immer größer wurden, stand er auf und schlich sich an eines der Häuser ran. Im Garten arbeitete eine Frau. Hirbel stellte sich an den Zaun und sah ihr zu. Die Frau fragte: »Wo kommst du denn her?« Der Hirbel sagte nichts. »Ich kenne dich nicht«, sagte die Frau, »du bist nicht von hier?« Wieder sagte der Hirbel nichts, denn er wusste, dass die Leute dann merkten, dass er der Hirbel war. »Geh doch heim«, sagte die Frau. »Musst du nicht in die Schule?« Der Hirbel schüttelte den Kopf. Die Frau kam langsam auf ihn zu. »Fehlt dir was?« Der Hirbel schüttelte wieder den Kopf. Die Frau ging ins Haus und kehrte nach einer Weile zurück. »Hast du Hunger?« fragte die Frau. Der Hirbel nickte. »Ich bringe dir ein Brot«, sagte sie, wandte sich um, wollte gehen, da stotterte der Hirbel: »Und – Milch.« Die Frau brachte aus dem Haus Brot und einen Becher Milch und reichte alles über den Zaun. Der Hirbel setzte sich vor den Zaun, aß und trank. Sie unterhielten sich nicht. Nur die Frau sprach. Sie erzählte ihm eine Menge, er verstand kaum etwas. Es interessierte ihn auch nicht. Er hatte gegessen, getrunken, eine Zeit lang dagesessen, da fuhr ein Auto vor, aus dem zwei Polizisten sprangen. Dem Hirbel war klar, dass die Frau ihn verraten hatte. Er sprang auf und rannte wie toll davon. Die Polizisten hinter ihm her. Er konnte schnell rennen. Im Rennen war er immer gut gewesen. Aber die Polizisten waren größer und hatten mehr Atem als er. Noch ehe er den Wald erreichte, hatten sie ihn gepackt, gefangen. Er wehrte sich, biss dem einen Polizisten in die Hand, trat dem anderen in den Bauch, der haute ihm eine runter, und dann war der Hirbel still. Er fing an zu weinen. Die Polizisten führten ihn zum Auto, der eine setzte sich neben ihn auf den Rücksitz, und sie fuhren in die Stadt. Dort erwarteten ihn der Doktor und der Fürsorger. Die zogen ernste Gesichter. Der Doktor sagte zu ihm: »Das ist nicht schlimm. Aber es ist besser, du kommst in eine Klinik, da können sie dich gesundmachen.« Der Hirbel warf sich auf den Boden, schrie, heulte, bäumte sich auf. Und der Doktor sagte: »Das ist der Schock, er hat einen Anfall.« Er hatte gar keinen Anfall, aber er wollte nicht in die Klinik. Die Frau Direktor kam und brachte seine Kleider, seine Akten. Der Doktor fuhr mit ihm in die Klinik und lieferte ihn dort ab. Im Heim redeten die anderen Kinder noch eine Weile von Hirbel. Fräulein Maier erfuhr, dass er aus dieser Klinik in eine andere gekommen sei. Sie dachte oft an ihn. Sie hatte ihn gern gehabt. Ganz sicher war sie nach einiger Zeit die einzige, die sich im Heim an den Hirbel erinnerte. Dann verließ Fräulein Maier das Heim, heiratete und bekam selber Kinder. Wenn sie heute ihren Kindern von Hirbel erzählt, fragt sie sich, was aus ihm geworden ist. |
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© 13.12.2010 HansiHerrmann.de
Letzte Änderung: 08.09.2025 21:41:54
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