Sie gingen den ganzen Tag über Wiesen, Felder und Steine, und wenn es regnete,
sprach das Schwesterchen: »Gott und unsere Herzen, die weinen zusammen!« Die böse Stiefmutter aber war eine Hexe und hatte wohl gesehen, wie die beiden Kinder
fortgegangen waren, war ihnen nachgeschlichen, heimlich, wie die Hexen schleichen, und hatte alle
Brunnen im Walde verwünscht. Als sie nun ein Brünnlein fanden, das so glitzerig über die Steine
sprang, wollte das Brüderchen daraus trinken, aber das Schwesterchen hörte, wie es im Rauschen
sprach: »Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger. Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.« Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen, wie auch dieses sprach: »Wer
aus mir trinkt, wird ein Wolf. Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf.« Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach:
»Wer aus mir trinkt, wird ein Reh. Wer aus mir trinkt, wird ein Reh. Das Schwesterchen
sprach: »Ach Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Reh und läufst mir
fort.« Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte Brüderchen, und das Rehchen weinte auch
und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich: »Sei still, liebes Rehchen, ich
will dich ja nimmermehr verlassen.« Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen ging es aus und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nüsse, und für das Rehchen brachte es zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand, war vergnügt und spielte vor ihm herum. Abends, wenn Schwesterchen müde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft einschlief. Und hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben gewesen. Das dauerte eine Zeitlang, dass sie so allein in der Wildnis waren. Es trug sich aber zu, dass der König des Landes eine große Jagd in dem Walde hielt. Da schallte
das Hörnerblasen, Hundegebell und das lustige Geschrei der Jäger durch die Bäume. Und das Rehlein
hörte es und wäre gar zu gern dabei gewesen. »Ach,« sprach es zum
Schwesterlein, »lass mich hinaus in die Jagd, ich kann’s nicht länger mehr
aushalten.« Und bat so lange, bis es einwilligte. Nun sprang das Rehchen hinaus und war ihm so wohl und war so lustig in freier Luft. Als der König und seine Jäger das Rehlein mit dem goldenen Halsband wieder sahen, jagten sie ihm alle nach. Aber es war ihnen zu schnell und behänd. Das währte den ganzen Tag, endlich aber hatten es die Jäger abends umzingelt, und einer verwundete es ein wenig am Fuß, sodass es hinken musste und langsam fortlief. Da schlich ihm ein Jäger nach bis zu dem Häuschen und hörte, wie es rief: »Mein Schwesterlein, lass mich herein«, und sah, dass die Tür ihm aufgetan und alsbald wieder zugeschlossen wurde. Der Jäger behielt das alles wohl im Sinn, ging zum König und erzählte ihm, was er gesehen und gehört hatte. Da sprach der König: »Morgen soll noch einmal gejagt werden.« Das Schwesterchen aber erschrak gewaltig, als es sah, dass sein Rehkälbchen verwundet war. Es
wusch ihm das Blut ab, legte Kräuter auf und sprach: »Geh auf dein Lager, lieb
Rehchen, dass du wieder heil wirst.« Als es der König erblickte, sprach er zu seinen Jägern: »Nun jagt ihm nach den ganzen Tag bis in die Nacht, aber dass ihm keiner etwas zuleide tut.« Sobald die Sonne untergegangen war, sprach der König zum Jäger: »Nun komm und
zeige mir das Waldhäuschen.« Der König nahm das schöne Mädchen auf sein Pferd und führte es in sein Schloss, wo die Hochzeit mit großer Pracht gefeiert wurde, und war es nun die Frau Königin. Und lebten sie lange Zeit vergnügt zusammen. Das Rehlein wurde gehegt und gepflegt und sprang in dem Schlossgarten herum. Die böse Stiefmutter aber, um derentwillen die Kinder in die Welt hineingegangen waren, die meinte nicht anders, als Schwesterchen wäre von den wilden Tieren im Walde zerrissen worden und Brüderchen als ein Rehkalb von den Jägern totgeschossen. Als sie nun hörte, dass sie so glücklich waren und es ihnen so wohl ging, da wurden Neid und Missgunst in ihrem Herzen rege und ließen ihr keine Ruhe. Und sie hatte keinen anderen Gedanken, als wie sie die beiden doch noch ins Unglück bringen könnte. Ihre rechte Tochter, die hässlich war wie die Nacht, und nur ein Auge hatte, die machte ihr Vorwürfe und sprach: »Eine Königin zu werden, das Glück hätte mir gebührt.« »Sei nur still,« sagte die Alte und sprach zufrieden, »wenn’s Zeit ist, will ich schon bei der Hand sein.« Als nun die Zeit herangerückt war, und die Königin ein schönes Knäblein zur Welt gebracht hatte,
und der König gerade auf der Jagd war, nahm die alte Hexe die Gestalt der Kammerfrau an, trat in
die Stube, wo die Königin lag und sprach zu der Kranken: »Kommt, das Bad ist
fertig, das wird Euch wohltun und frische Kräfte geben. Geschwind, ehe es kalt wird.« Als das vollbracht war, nahm die Alte ihre Tochter, setzte ihr eine Haube auf und legte sie ins Bett an der Königin Stelle. Sie gab ihr auch die Gestalt und das Ansehen der Königin, nur das verlorene Auge konnte sie ihr nicht wiedergeben. Damit es aber der König nicht merkte, musste sie sich auf die Seite legen, wo sie kein Auge hatte. Am Abend, als er heimkam und hörte, dass ihm ein Söhnlein geboren war, freute er sich herzlich, und wollte ans Bett seiner lieben Frau gehen und sehen, was sie machte. Da rief die Alte geschwind: »Beileibe, lasst die Vorhänge zu, die Königin darf noch nicht ins Licht sehen und muss Ruhe haben.« Der König ging zurück und wusste nicht, dass eine falsche Königin im Bette lag. Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege saß und allein noch wachte, wie die Tür aufging, und die rechte Königin hereintrat. Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm und gab ihm zu trinken. Dann schüttelte sie ihm sein Kisschen, legte es wieder hinein und deckte es mit dem Deckchen zu. Sie vergaß aber auch das Rehchen nicht, ging in die Ecke, wo es lag und streichelte ihm über den Rücken. Darauf ging sie ganz stillschweigend wieder zur Tür hinaus. Und die Kinderfrau fragte am anderen Morgen die Wächter, ob jemand während der Nacht ins Schloss gegangen wäre, aber die antworteten: »Nein, wir haben niemand gesehen.« So kam sie viele Nächte und sprach niemals ein Wort dabei. Die Kinderfrau sah sie immer, aber sie getraute sich nicht, jemand etwas davon zu sagen. Als nun so eine Zeit verflossen war, da hub die Königin in der Nacht an zu reden und sprach:
»Was macht mein Kind? Was macht mein Reh? Nun komm ich noch zweimal und dann
nimmermehr.« Da konnte sich der König nicht zurückhalten, sprang zu ihr und sprach: »Du
kannst niemand anders sein als meine liebe Frau.« Brüderchen und Schwesterchen aber lebten glücklich zusammen bis an ihr Ende. |
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