Die Frau hatte zwei Töchter mit ins Haus gebracht, die schön und weiß von Angesicht
waren, aber garstig und schwarz von Herzen. Da fing eine schlimme Zeit für das arme Stiefkind an.
»Soll die dumme Gans bei uns in der Stube sitzen?« sprachen sie. »Wer Brot essen
will, muss es verdienen! Hinaus mit der Küchenmagd!« Es trug sich zu, dass der Vater einmal in die weit entfernte Stadt fahren und einkaufen wollte.
Da fragte er die beiden Stieftöchter, was er ihnen mitbringen sollte. »Schöne Kleider«,
sagte die eine, »Perlen und Edelsteine« die zweite. »Aber du,
Aschenputtel«, sprach er, »was willst du haben?« Eines Tages gab der König ein Fest, das drei Tage dauern sollte und wozu alle schönen Jungfrauen
im Lande eingeladen wurden, damit sich sein Sohn eine Braut aussuchen könnte. Die zwei
Stiefschwestern, als sie hörten, dass sie auch erscheinen sollten, waren guter Dinge, riefen
Aschenputtel und sprachen: »Kämm uns die Haare, bürste uns die Schuhe und mache uns die
Schnallen fest, wir gehen zur Hochzeit auf des Königs Schloss.« Da kamen zum Küchenfenster zwei weiße Täubchen herein und danach die Turteltäubchen. Und endlich
schwirrten und schwärmten alle Vögel unter dem Himmel herein und ließen sich um die Asche nieder.
Und die Täubchen nickten mit den Köpfchen und fingen an pick, pick, pick, pick. Und da fingen die
übrigen auch an pick, pick, pick, pick und lasen alle guten Körnlein in die Schüssel. Kaum war eine
Stunde herum, so waren sie schon fertig und flogen alle wieder hinaus. Da brachte das Mädchen die
Schüssel der Stiefmutter, freute sich und glaubte, es dürfte nun mit auf die Hochzeit gehen. Aber
sie sprach: »Nein, Aschenputtel, du hast keine Kleider und kannst nicht tanzen. Du wirst nur
ausgelacht.« Als sie die zwei Schüsseln Linsen in die Asche geschüttet hatte, ging das Mädchen durch die Hintertür in den Garten und rief wieder: »Ihr zahmen Täubchen, ihr Turteltäubchen, all ihr Vögel unter dem Himmel, kommt und helft mir lesen. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.« Da kamen zum Küchenfenster wieder alle Vögel unter dem Himmel herein und ließen sich um die Asche
nieder. Und die Täubchen fingen an pick, pick, pick, pick, und da fingen die übrigen auch an pick,
pick, pick, pick und lasen alle guten Körner in die Schüsseln. Und eh eine halbe Stunde herum war,
waren sie schon fertig und flogen alle wieder hinaus. Da trug das Mädchen die Schüsseln zu der
Stiefmutter, freute sich und glaubte, nun dürfe es mit auf die Hochzeit. Aber sie sprach: »Es
hilft dir alles nichts. Du kommst nicht mit, denn du hast keine Kleider und kannst nicht tanzen.
Wir müssten uns deiner schämen.« Als nun niemand mehr daheim war, ging Aschenputtel zu seiner Mutter Grab unter den Haselbaum und rief: »Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich.« Da warf ihm der Vogel ein golden und silbern Kleid herunter und mit Seide und Silber ausgestickte Pantoffeln. In aller Eile zog es das Kleid an und ging zur Hochzeit. Seine Schwestern aber und die Stiefmutter erkannten es nicht und meinten, es müsste eine fremde Königstochter sein, so schön sah es in dem goldenen Kleide aus. An Aschenputtel dachten sie gar nicht und dachten, es säße daheim im Schmutz und suchte die Linsen aus der Asche. Der Königssohn kam ihm entgegen, nahm es bei der Hand und tanzte mit ihm. Er wollte auch mit sonst niemandem tanzen, sodass er ihm die Hand nicht losließ, und wenn ein anderer kam, es aufzufordern, sprach er: »Das ist meine Tänzerin.« Es tanzte, bis es Abend war, da wollte es nach Hause gehen. Der Königssohn aber sprach: »Ich gehe mit und begleite dich«, denn er wollte sehen, zu wem das schöne Mädchen gehörte. Sie entwischte ihm aber und sprang in das Taubenhaus. Nun wartete der Königssohn, bis der Vater kam, und sagte ihm, das fremde Mädchen sei in das Taubenhaus gesprungen. Der Alte dachte: »Sollte es Aschenputtel sein?«, und sie mussten ihm Axt und Hacken bringen, damit er das Taubenhaus entzweischlagen konnte; aber es war niemand drin. Und als sie ins Haus kamen, lag Aschenputtel in seinen schmutzigen Kleidern in der Asche, und ein trübes Öllämpchen brannte im Schornstein; denn Aschenputtel war geschwind aus dem Taubenhaus hinten herabgesprungen und war zu dem Haselbäumchen gelaufen. Da hatte es die schönen Kleider ausgezogen und aufs Grab gelegt, und der Vogel hatte sie wieder weggenommen, und dann hatte es sich in seinem grauen Kittelchen in die Küche zur Asche gesetzt. Am nächsten Tag, als das Fest von neuem anfing und die Eltern und Stiefschwestern wieder fort waren, ging Aschenputtel zu dem Haselbaum und sprach: »Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich.« Da warf der Vogel ein noch viel stolzeres Kleid herab als am vorigen Tag. Und als es mit diesem Kleide auf der Hochzeit erschien, staunte jedermann über seine Schönheit. Der Königssohn aber hatte gewartet, bis es kam, nahm es gleich bei der Hand und tanzte nur allein mit ihm. Wenn die andern kamen und es aufforderten, sprach er: »Das ist meine Tänzerin.« Und als es nun Abend war, wollte es fort, und der Königssohn ging ihm nach und wollte sehen, in welches Haus es ging. Aber es sprang ihm fort und in den Garten hinter dem Haus. Darin stand ein schöner großer Baum, an dem die herrlichsten Birnen hingen, es kletterte so geschickt wie ein Eichhörnchen zwischen die Äste, und der Königssohn wusste nicht, wo es hingegangen war. Er wartete aber, bis der Vater kam, und sprach zu ihm: »Das fremde Mädchen ist mir entwischt, und ich glaube, es ist auf den Birnbaum gesprungen.« Der Vater dachte: »Sollte es Aschenputtel sein? «, ließ sich die Axt holen und hieb den Baum um, aber es war niemand drauf. Und als sie in die Küche kamen, lag Aschenputtel da in der Asche, wie sonst auch, denn es war auf der andern Seite vom Baum herabgesprungen, hatte dem Vogel auf dem Haselbäumchen die schönen Kleider wieder gebracht und sein graues Kittelchen angezogen. Am dritten Tag, als die Eltern und Schwestern fort waren, ging Aschenputtel wieder zu seiner
Mutter Grab und sprach zu dem Bäumchen: Nun warf ihm der Vogel ein Kleid herab, das war so prächtig und glänzend, wie es noch keins gehabt hatte. Und die Pantoffeln waren ganz golden. Als es in dem Kleid zu der Hochzeit kam, wussten sie alle nicht, was sie vor Verwunderung sagen sollten. Der Königssohn tanzte ganz allein mit ihm, und wenn es einer aufforderte, sprach er: »Das ist meine Tänzerin.« Als es nun Abend war, wollte Aschenputtel fort, und der Königssohn wollte es begleiten, aber es
entwischte ihm so geschwind, dass er nicht folgen konnte. Der Königssohn hatte aber eine List
gebraucht und die ganze Treppe mit Pech bestreichen lassen. Da war, als es hinabsprang, der linke
Pantoffel des Mädchens hängengeblieben. Der Königssohn hob ihn auf, und er war klein und zierlich
und ganz golden. Am nächsten Morgen ging er damit zu dem Mann und sagte zu ihm: »Keine andere
soll meine Gemahlin werden als die, an deren Fuß dieser goldene Schuh passt.« Da blickte er auf ihren Fuß und sah, wie das Blut herausquoll. Er wendete sein Pferd um, brachte
die falsche Braut wieder nach Haus und sagte, das wäre nicht die rechte, die andere Schwester solle
den Schuh anziehen. Da ging diese in die Kammer und kam mit den Zehen glücklich in den Schuh, aber
die Ferse war zu groß. Da reichte ihr die Mutter ein Messer und sprach: »Hau ein Stück von
der Ferse ab. Wenn du Königin bist, brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen.« Er blickte nieder auf ihren Fuß und sah, wie das Blut aus dem Schuh quoll und an den weißen
Strümpfen ganz rot heraufgestiegen war. Da wendete er sein Pferd und brachte die falsche Braut
wieder nach Haus. »Das ist auch nicht die rechte«, sprach er, »habt Ihr keine
andere Tochter?« »Nein«, sagte der Mann, »nur von meiner verstorbenen
Frau ist noch ein kleines, verkümmertes Aschenputtel da. Das kann unmöglich die Braut sein.«
Und als sie das gerufen hatten, kamen sie beide herabgeflogen und setzten sich dem Aschenputtel auf die Schultern, eine rechts, die andere links, und blieben da sitzen. Als die Hochzeit mit dem Königssohn gehalten wurde, kamen die falschen Schwestern, wollten sich einschmeicheln und an seinem Glück teilhaben. Als die Brautleute nun zur Kirche gingen, war die Älteste zur rechten, die Jüngste zur linken Seite. Da zwickten und pickten und rissen die Täubchen den Schwestern die Haare aus, bis sie gar keine mehr auf dem Kopf trugen. Und so waren sie für ihre Bosheit und Falschheit das ganze Leben lang betraft. |
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Letzte Änderung: 08.09.2025 21:23:26
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